Hannelore Krafts NRW-Wahlkampf: Nah bei den Leuten
In der westfälischen Provinz pflegt die Ministerpräsidentin ihr Image als Kümmerin. Ob das aber reicht? Sie scheint selbst zu zweifeln.
Die Couch der mächtigsten Landespolitikerin der Republik ist schnell umlagert. 17 Jahre ist Kraft in der Politik. Wenn sie will, beherrscht sie die Rolle der Spitzenpolitikerin, die bei aller Verantwortung menschlich geblieben ist, nahezu perfekt: BürgerInnen, die ihr vorhalten, dass ihre rot-grüne Landesregierung Schutzsuchende nach Afghanistan abschiebt, dankt sie zuallererst für deren Engagement, das wirkt herzlich. In der Sache aber bleibt sie hart. Manche Region am Hindukusch sei eben sicher – und als Verantwortliche müsse sie dafür sorgen, dass in der Flüchtlingspolitik die Akzeptanz der Bevölkerung erhalten bleibe: „Ich muss den Laden zusammenhalten.“
Zusammenhalten muss Hannelore Kraft seit vergangenem Sonntagabend auch die SPD. Da hatte Kraft noch einmal bekräftigt, „rund um die Uhr kämpfen“ zu wollen und nachgeschickt: „Schleswig-Holstein ist nicht Nordrhein-Westfalen.“ Die Sozialdemokraten im Norden waren gerade gescheitert und landeten fast fünf Prozentpunkte hinter der CDU. An Rhein und Ruhr geht es am Sonntag daher nicht nur um das bevölkerungsreichste Bundesland, sondern auch um die Bundes-SPD.
In NRW entscheidet sich Martin Schulz
Verlieren die Sozialdemokraten NRW mit seinen knapp 18 Millionen Einwohnern kann Kanzlerkandidat Martin Schulz schon vier Monate vor der Bundestagswahl einpacken. Doch die Diplom-Ökonomin, die NRW seit 2010 regiert, ist eine Wahlkampfmaschine, nicht erst seit vergangenem Sonntag – und eine erfahrene dazu. In Bünde verweist sie Kritik an einem Küchenhersteller, der ein Naturschutzgebiet zur Erweiterung seiner Fabrik zubetonieren will, schnell an die lokale SPD-Kandidatin Angela Lück: „Darum müsst ihr euch kümmern!“
Person: Hannelore Kraft, geb. am 12. Juni 1961 in Mülheim an der Ruhr als Hannelore Külzhammer, katholisches Elternhaus, verheiratet, ein Sohn. Als Erwachsene zur evangelischen Kirche übergetreten.
Beruf: Abitur, Ausbildung zur Bankkauffrau in Mönchengladbach, Studium der Wirtschaftswissenschaften in Duisburg und am King’s College London.
Partei: 1994 Eintritt in die SPD, ab 2000 NRW-Landtagsmandat, 2001 bis 2005 Ministerämter unter Clement und Steinbrück. 2005 bis 2010 Oppositionsführerin. Ab 2010 Ministerpräsidentin einer rot-grünen Koalition.
Hannelore Kraft, die Kümmerin, nah bei den Leuten: In etwas mehr als einer halben Stunde hat es die Sozialdemokratin aus dem Ruhrpott geschafft, ihr allerliebstes Image zu transportieren. Ob das aber zum Machterhalt reicht – daran scheint die Spitzenkandidatin inzwischen selbst zu zweifeln. Denn in letzten Umfragen liegen ihre Sozialdemokraten mit 32 bis 33 Prozent mal gleichauf, mal nur knapp vor der CDU ihres Herausforderers Armin Laschet.
Für Kraft, von der in der Landeshauptstadt Düsseldorf viele sagen, sie hasse nichts mehr als Kontrollverlust, heißt das: Der nächste Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens könnte tatsächlich Laschet heißen – schließlich liegt auch die FDP mit ihrem hyperaktiven Chef Christian Lindner bei zwölf bis 13 Prozent.
Ein sozialliberales Bündnis schließt Kraft deshalb nicht aus – Rot-Rot-Grün aber sehr wohl: „Mit mir als Ministerpräsidentin wird es keine Regierung mit Beteiligung der Linken geben“, tönte sie am Mittwoch im WDR – und sprang damit über ein Stöckchen, das ihr CDU-Oppositionsführer Laschet, der Linke und AfD gern als „Extremisten“ gleichsetzt, seit Monaten hingehalten hat. „Ich kämpfe allein für die SPD“, betont Kraft. Allein bleiben damit auch die Grünen, die in ihrem Kabinett drei MinisterInnen stellen, aber seit Januar von zweistelligen Umfragewerten auf sieben Prozent abgestürzt sind.
Dabei galt Kraft vor einem Jahr selbst als abgeschrieben. Schon zwischen Dezember 2015 und Mai 2016 lag Laschets CDU vorn. Die Ministerpräsidentin dagegen wirkte müde und erschöpft. Fünf Tage brauchte sie, um die Übergriffe der Silvesternacht in Köln mit einer dürren Erklärung zu verurteilen. Wie verdampft schien das Bild der warmherzigen Frau, die Angehörige der Opfer der Loveparade-Katastrophe und des Germanwings-Flugzeugabsturzes tröstend in den Arm nahm.
„Wir können gern nachliefern“
Zuvor war Kraft schon bei einem schweren Unwetter, dass in Münster zwei Menschen das Leben kostete, mit einer seltsamen Ausrede abgetaucht: Bei einer Schiffsreise in Brandenburg habe sie „keinen Empfang“ gehabt, sei tagelang nicht erreichbar gewesen, erklärte die Regierungschefin ernsthaft. Vor der Landespressekonferenz, die sie monatelang gemieden hatte, legte sie einen bemitleidenswerten Auftritt hin: „Geben Sie mir eine Minute“, stammelte sie auf die Frage nach ihren großen Linien. „Ich finde es nicht“, meinte sie dann. „Wir können Ihnen gern nachliefern, was noch an großen Themen dabei ist.“
Viele JournalistInnen betrachteten die Ministerpräsidentin danach weniger wohlwollend. „Die Kraftlose“ titelte Bild, „Sie will: nichts“ die Zeit. Von „Nordrhein-Versagen“ schrieb das Blog Ruhrbarone. Kern der Kritik: NRW sei ein „failed state“ mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut, geringen Investitionsquoten – und mit einem Wirtschaftswachstum nahe null, einer verrotteten Infrastruktur aus Straßen und Schienen zumindest Schlusslicht aller westdeutschen Flächenländer.
Außerdem habe sich Kraft mit dem Versprechen gegenüber ihrer Landtagsfraktion, sie werde „nie, nie als Kanzlerkandidatin antreten“, bundespolitisch selbst entmachtet. Verspielt habe die Wirtschaftswissenschaftlerin damit die Sonderstellung Nordrhein-Westfalens – was sich auch daran zeige, dass sie die Verhandlungen über den Länderfinanzausgleich Hamburgs SPD-Oberbürgermeister Olaf Scholz überlassen habe.
Ein schwieriges Jahr
Auch privat war 2016 für Hannelore Kraft schwierig. Erst kämpfte sie monatelang mit den Folgen einer Lungenentzündung. Dann starb im September ihre Mutter Anni Külzhammer. Zusammen mit ihrem Mann Udo hat Kraft im Mülheimer Stadtteil Dümpten mit der 81-Jährigen Tür an Tür in einem Doppelhaus gewohnt – wie sehr sie ihre Herkunft geprägt hat, macht die Politikerin schon auf ihrer Homepage klar: Ihr Vater Manfred, der nur 50 Jahre alt wurde, arbeitete wie die Mutter bei der Straßenbahn in Wechselschicht. Als erste in der Großfamilie machte Kraft 1980 Abitur. Den sozialdemokratischen Traum vom Aufstieg durch Bildung verkörpert die Ministerpräsidentin persönlich.
Heute aber will die Mülheimerin vom „Schlusslicht-Gequatsche“ der Opposition nichts mehr hören: Um 1,8 Prozent sei die Wirtschaft 2015 gewachsen. Im Ranking der Länder liege NRW damit auf Platz sechs, nur knapp unter dem Bundesdurchschnitt von 1,9 Prozent. „Bayern überholen wir auch noch“, verspricht Kraft bei jedem ihrer Auftritte: „Die haben auch nur ein Wachstum von 2,1 Prozent.“
Gegen den Bundestrend um 0,7 Prozent gesunken ist auch die Kinderarmut, rechnet zumindest die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung vor. Vorwürfe, das zentrale Projekt „Kein Kind zurücklassen“ von SPD und Grünen funktioniere nicht, laufen damit ins Leere. Grund für die Hunderte Kilometer Stau, die Nordrhein-Westfalens Autobahnen werktags oft in Parkplätze verwandeln, ist dagegen die Flexibilität der WählerInnen selbst: Gerade aus dem strukturschwachen Ruhrgebiet fahren jeden Morgen Hunderttausende ins boomende Rheinland. Allein die Landeshauptstadt Düsseldorf zählt knapp 300.000 Einpendler.
Wenig bekannt ist Krafts Position zum Mindestlohn von aktuell 8,84 Euro. Obwohl der nicht einmal für eine Rente auf Grundsicherungsniveau reicht, ist sie gegen jede Erhöhung, fürchtet Jobverluste im Niedriglohnbereich. Kritisiert wird sie dafür aber nur von der Linken. Auch in der Energiepolitik ist Kraft eine typische Repräsentantin der strukturkonservativen NRW-SPD: Als ihr grüner Umweltminister Johannes Remmel die Stilllegung von zehn klimaschädlichen Kohlekraftwerken forderte, distanzierte sich die Sozialdemokratin sofort: „Das ist nicht die Position der NRW-Landesregierung.“
Auf Kritiker reagiert sie ungnädig
Unsympathisch wirken könnte aber vor allem ihre größte Schwäche. Auf Kritik nicht nur von JournalistInnen reagiert sie oft mehr als gereizt – selbst bei Wahlkampfauftritten wie ihrer Tour durch Ostwestfalen: Als sie während ihrer Abschlusskundgebung in der Ravensberger Spinnerei, einem Industriedenkmal in Bielefeld, schon wieder auf Abschiebungen nach Afghanistan angesprochen wird, verzieht die Spitzenkandidatin das Gesicht wie in manchen Pressekonferenzen. „Wir sind anderer Meinung, tut mir leid“, sagt sie dann scharf – und beendet so schnell jede Diskussion.
Die vielen GenossInnen im Saal schweigen fast schockiert: Plötzlich herrscht peinliche Stille.
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