Hamburgs Linke-Spitzenkandidatin: Betriebsunfall Bundestag
Weil die Linke bei der Wahl im Bund zu gut abschnitt, droht die Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl Özdemir in den Bundestag zu entschwinden.
Der Erfolg trifft die Partei völlig unvorbereitet. „Als wir Mitte Dezember unsere Landesliste für die Bundestagswahl aufgestellt hatten, lagen wir in Umfragen bundesweit teilweise noch unter 'Sonstige’ und wir hätten niemals mit dem gestrigen Ergebnis gerechnet“, ringt Landeschefin Sabine Ritter um Fassung.
Dieses Ergebnis bringt Die Linke in eine sonderbare Lage. Denn dadurch kann sie zwei Abgeordnete nach Berlin entsenden. Einkalkuliert war lediglich Parteichef und Spitzenkandidat Jan van Aken.
Hinzu kommt nun die Zweitplatzierte der Landesliste. Und das ist Cansu Özdemir. Die langjährige Fraktionschefin in der Hamburger Bürgerschaft ist aber noch Spitzenkandidatin bei der anstehenden Wahl. In der ganzen Stadt blickt sie von Plakaten.
Guten Gewissens angetreten
„Das kam für mich gestern Abend wirklich überraschend – da konnte niemand mit rechnen“, teilte Özdemir am Montag mit. „Als ich für Platz zwei unserer Landesliste kandidiert habe, schien ein solches Ergebnis außerhalb des Möglichen.“ In dieser Annahme sei sie „guten Gewissens“ angetreten, um Jan van Aken als Spitzenkandidaten zu unterstützen. „Jetzt muss ich das für mich aber erst mal verarbeiten“, so Özdemir weiter, „und diese Situation vor allem auch privat mit meiner Familie klären“.
Özdemir hat ein Kleinkind, was mit dem Hamburger Feierabendparlament einigermaßen vereinbar war. Ein Wechsel nach Berlin und in die hauptberufliche Politik wäre eine echte Lebensentscheidung. Deshalb ist tatsächlich nicht sicher, dass Özdemir ihr Mandat annimmt – auch wenn das eine ganz neue Karriereoption eröffnen würde.
Für die Politikwissenschaftlerin mit kurdischen Wurzeln könnte die Berliner Bühne aber auch deswegen reizvoll sein, weil sie sich immer wieder für die kurdische Sache stark gemacht hat. 2019 wurde sie verurteilt, weil sie auf Twitter die Flagge der Kurdischen Arbeiterpartei PKK gepostet hatte. Immer wieder hat sie die militärische Eskalation gegen die Kurden in Nordsyrien durch den syrischen Staat, Russland und die Türkei kritisiert.
2021 hinderte die Bundespolizei eine „Friedensdelegation“ um Özdemir an der Ausreise in den kurdischen Teil des Iraks – rechtswidrig, wie inzwischen festgestellt ist.
Doppelmandat wäre möglich
Theoretisch wäre es auch möglich, Mandate im Bundestag und der Bürgerschaft zu bekleiden. Das wäre aber noch viel weniger zu schaffen und sicherlich auch nicht im Sinne der Partei. Für eine Übergangsphase zu Beginn beider Legislaturen könnte es aber dazu kommen.
Obwohl sie erst 36 ist, hat Özdemir schon viel politische Erfahrung. 2015 war sie erstmals in die Hamburger Bürgerschaft eingezogen – dank zahlreicher Personenstimmen, die es laut Hamburger Wahlgesetz ermöglichen, auf der Landesliste Boden gut zu machen. Sie wurde auf Anhieb Fraktionsvorsitzende. Für ihre Fraktion käme ein Ausscheiden auch deshalb zur Unzeit, weil ihre bisherige Ko-Vorsitzende Sabine Boeddinghaus aus Altersgründen nicht wieder für die Bürgerschaft kandidiert.
Immerhin tritt an ihrer Stelle Heike Sudmann als Spitzenkandidatin neben Özdemir an, eine erfahrene Parlamentarierin, die wegen ihrer langjährigen akribischen Sacharbeit in der Stadt bekannt und respektiert ist. „Ich starte erst einmal mit aller Kraft durch in die letzte Wahlkampf-Woche – mit dem Rückenwind dieses großartigen Ergebnisses“, wischt Özdemir alle Spekulationen beiseite.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!