Hamburger SV in der Ersten Liga: HSV auf der Suche nach sich selbst
Der HSV verliert zu Hause das Erstliga-Derby gegen den FC St. Pauli deutlich. Entscheidender als dieses Ergebnis allein ist aber etwas anderes.

Die vielen Jahre in der Zweiten Fußball-Bundesliga hatte der Hamburger SV im Mai mit dem Aufstieg eigentlich abgehakt. Die Mannschaft hatte sich sportlich entwickelt und auch Trainer Merlin Polzin, jahrelang Assistenztrainer diverser Chefcoaches, war an der Aufgabe gewachsen und verantwortlich für die Rückkehr in die Erste Liga. Doch jetzt zeigt sich, dass es noch nicht zu reichen scheint.
Am Freitagabend verlor der HSV im eigenen Stadion das Derby gegen den FC St. Pauli deutlich und verdient mit 2:0. Entscheidender als dieser Sieg aber waren die strukturellen Unterschiede, die sich zeigten: Rein sportlich ist der kleine Stadtteilklub dem großen Verein enteilt.
Die vergangene Saison beendet der HSV in der Zweiten Liga auf Platz zwei. Das war ein sportlicher Kraftakt und keineswegs der Gipfel einer Entwicklung: Um in der Ersten Bundesliga mithalten zu können, ist so gut wie alles verändert worden. Aber nach drei Pflichtspielen ist klar, dass der HSV sich mühsam an die herrschenden Verhältnisse gewöhnen muss.
FC St. Pauli startet nicht bei null
Der FC St. Pauli fing nach seinem Aufstieg in der Saison 2023/24 nicht derart bei null an wie jetzt der HSV: Bereits unter Trainer Fabian Hürzeler wurde beim FC St. Pauli ein stilistisches und personelles Grundgerüst eingezogen, das zweieinhalb Jahre später mit einigen Retuschen auch in der Ersten Liga unter Trainer Alexander Blessin funktioniert. Von ihm auf stimmige Defensive getrimmt und durch Einkäufe und Ausleihen eingetütet von Andreas Bornemann, Geschäftsleiter Sport, auf Erstliga-Niveau gebracht.
Jussuf Poulsen, HSV-Kapitän
„Bei aller Rivalität können wir anerkennen, welch gute Arbeit geleistet wurde“, sagte HSV-Trainer Merlin Polzin nach dem Derby. „Man darf nicht vergessen, wie souverän St. Pauli in der Liga geblieben ist. Wir sind offen, uns etwas abzuschauen.“ Polzins preisende Worte gehörten zum Besten, was der HSV im Moment zu bieten hatte. Gift und Galle haben ausgedient, seit er das Sagen hat.
Dass es manchen Fan schmerzen wird, wie leidenschaftslos Polzin die neue Rangliste in der Stadt anerkannte, wird ihn in seinem Bemühen um eine nüchterne Analyse nicht interessieren. Der FC St. Pauli ist dem HSV voraus und Polzin muss sehen, dass sein Team dazulernt. „Wir wollen uns nicht über Romantik definieren, sondern über Arbeit“, sagte er. Sechs Jahre in der zweiten Liga haben eben Spuren hinterlassen.
HSV sucht sich selbst
Der große Klub ist fußballerisch auf der Suche nach sich selbst, denn der wuchtige, unterhaltsame Offensivfußball mit 78 Toren in der vergangenen Saison wird nicht weit tragen. Das haben sie beim HSV durchaus erkannt und beim 0:0 in Gladbach sah es schon vielversprechend aus.
Auch gegen den FC St. Pauli begann Polzin mit sieben Defensivspielern. Im Bemühen um Stabilität ist seinem Team aber die Idee nach vorn abhandengekommen. „Es wird unser Thema bleiben, das Offensivspiel zu verbessern“, sagte Polzin. Verstärkung soll nun her.
HSV-Vorstand Stefan Kuntz versprach: „Es geht um einen Spieler, der das Spiel aus dem Mittelfeld ins letzte Drittel transportiert, der die letzten Pässe spielen kann und torgefährlich ist. In diese Richtung schauen wir.“ Er bemüht er sich um Fabian Rieder von Stade Rennes.
Dem HSV fehlt derzeit die Selbstverständlichkeit eines abgestimmten Teams. Merlin Polzin sagte: „Es ist ein Prozess, unser Offensivspiel zu verfeinern.“
Auch der FC St. Pauli brauchte in der vergangenen Saison eine Weile, um sich an die Erste Liga zu gewöhnen. Trainer Blessin probierte anfangs manches, vertraute seinem stabilen, von Hürzeler geerbten Spiel-Aufbau über Torwart Nikola Vasilj, Hauke Wahl und Eric Smith dann im Herbst aber endlich – er trug die Mannschaft durch die Saison; nur Bayern München kassierte weniger Gegentore.
Schlussphase erlebten viele Fans nicht mehr
Am Freitag standen fünf Neue in St. Paulis Startaufstellung; Sturm-Zugang Martijn Kaars kam ohne ein einziges Teamtraining zum Einsatz. Blessin hat eben ein Gerüst, das nicht bricht, auch wenn ein Pfeiler wie David Nemeth fehlt. Das ist Bornemanns Verdienst. Der Geschäftsleiter Sport hat auch in diesem Sommer wieder neue Spieler geholt, deren Namen kaum jemand kannte. „Wir haben jetzt ein ganz anderes Tempo im Team“, sagte Blessin und meinte die Verpflichteten Andréas Hountondji und Mathias Pereira Lage.
Die Schlussphase des Duells Hamburg gegen Hamburg erlebten viele HSV-Fans am Freitagabend gar nicht mehr mit, weil sie vorzeitig den Heimweg antraten. Bevor auch er sich in die warme Nacht verabschiedete, wollte HSV-Kapitän Jussuf Poulsen noch etwas Zuversicht verbreiten. Er lobte die Stimmung im Volkspark und die Unterstützung der Fans: „Ich habe in unserer Mannschaft viel Leidenschaft gesehen. Ich bin schon lange dabei. Wir müssen ruhig bleiben. Es war nicht alles schlecht.“ Was aufmunternd gemeint war, klang wie die Bestätigung, dass dieser HSV als erster Abstiegskandidat in die Saison geht.
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