Halbzeit der UN Agenda 2030: „Geld allein würde nicht helfen“
Um die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erreichen, braucht es strukturelle Veränderungen, sagt Imme Scholz. Sie ist Ko-Autorin des Statusberichts.
taz: Wie steht es um die Welt, Frau Scholz?
Imme Scholz: Wenn man die Indikatoren für die 17 Ziele für ein gutes Leben für alle und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen global zusammenrechnet, dann ist das Bild insgesamt absolut nicht zufrieden stellend. Nur 15 Prozent der Indikatoren sind auf Kurs und und können bis 2030 umgesetzt werden. Es wird sehr schwer, die Ziele selbst bis 2050 zu erreichen.
ist Ko-Vorständin der Heinrich Böll Stiftung. Für die UN hat sie den Weltnachhaltigkeitsbericht 2023 mitverfasst.
Sie haben den Halbzeitbericht zu den 17 nachhaltigen Entwicklungszielen der Agenda 2030 mitverfasst. Was sind denn die großen Baustellen und was läuft gut?
Insgesamt gab es mehr Ausgaben für Forschung und Entwicklung, mehr Menschen haben Zugang zu mobilen Telefonen und Internet. Und mehr Menschen haben ein Dach über dem Kopf. Rückschritte gab es bei der Bekämpfung der extremen Armut und der Kindersterblichkeit, was vor allem mit der Corona-Pandemie zusammenhängt, sowie beim Impfschutz. Global schaffen es weniger Kinder als zuvor, zumindest die Grundschule abzuschließen. Es gibt Rückschritte beim Artenschutz, und die CO2-Emissionen nehmen weltweit zu. Eine Zahl, die ich besonders anschaulich finde: Die Subventionen für fossile Energieträger haben sich global verdoppelt.
Häufig geht es in der Debatte um die Erreichung der Ziele um Investitionen und Entwicklungsfinanzierung. In Ihrem Bericht fordern Sie sozialökologische Transformationsprozesse. Was heißt das?
Es gibt eine Finanzierungslücke. Aber das Geld allein würde auch nicht helfen. Viele der Ziele erfordern strukturelle Veränderungen. Es geht um die Umstellung auf Klimaneutralität in allen Bereichen und darum, ein Wirtschaftswachstum zu erzielen, das positive Umverteilungseffekte hat, die Armut verringert und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme finanziert. Man muss notwendige Veränderungen so in Gang bringen, dass sie auch einen Regierungswechsel überleben. Ein wichtiger Punkt ist auch die Geschlechtergerechtigkeit. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Stärkung von Frauen sich immer positiv auf mehrere Ziele auswirkt.
Dennoch werden globale Systemfragen bei der Agenda bislang hintangestellt, etwa wie das internationale Finanzsystem verändert werden müsste oder ein ungleiches exportorientiertes globales Handelssystem.
Im Bericht sprechen wir uns auch für einen Schuldenerlass für besonders verschuldete Länder und ein funktionierendes Schuldenumstrukturierungssystem aus. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Industrieländer, sondern auch China muss unbedingt mitmachen. Außerdem unterstützen wir eine globale CO2-Steuer, deren Erträge auch an Entwicklungsländer ausgezahlt würden – wie gerade beim afrikanischen Klimagipfel gefordert. Wir hoffen, dass diese konkreten Ideen zum Umbau der globalen Finanzarchitektur mit in die gemeinsame Abschlusserklärung kommen.
Was erhoffen Sie sich noch vom Nachhaltigkeitsgipfel in New York?
Die Umsetzung der Ziele muss beschleunigt werden. Dazu ist unser Vorschlag, dass schon zum nächsten Jahr alle Länder Aktionspläne vorlegen, die sich auf die Ziele beziehen, bei denen sie stagnieren oder sich in eine negative Richtung entwickeln. In vielen afrikanischen Ländern werden das fast alle Ziele sein. Für Deutschland wäre das in Bezug auf internationale Zusammenarbeit etwa, dass die Verpflichtungen zu Entwicklungs- und Klimafinanzierung eingehalten werden. Die mittelfristige Finanzplanung garantiert das derzeit nicht. Deutschland müsste sich natürlich auch am Schuldenerlass und der Schuldenumstrukturierung beteiligen.
Und wie steht Deutschland bei der nationalen Umsetzung der 17 Entwicklungsziele da?
Die deutsche Umsetzung ist in der Nachhaltigkeitsstrategie festgelegt. Alle zwei Jahre gibt es einen Bericht vom Statistischen Bundesamt dazu. Einige Ziele sind wirklich nicht sehr ambitioniert. Zum Beispiel haben wir das Ziel der Vollbeschäftigung erreicht, das sagt aber nichts über die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse aus. Zudem haben wir jetzt einen Fachkräftemangel. Wir hatten sehr lange kaum soziale Ziele in der Nachhaltigkeitsstrategie, das hat sich in den letzten Jahren geändert, der Gini-Koeffizient, also die Einkommensverteilung, wurde etwa hinzugefügt. Das Ziel, besser als der EU-Durchschnitt zu sein, wurde 2020 nicht erreicht. In der Nachhaltigkeitsstrategie gibt es aber auch aussagekräftige konkrete Ziele zum Biodiversitätsschutz, zur Verringerung der CO2-Emissionen.
Hat Deutschland die erreicht?
Bei der Biodiversität sieht es absolut nicht gut aus, da werden wir das Ziel deutlich verfehlen. Die CO2-Emissionen sinken zwar, aber nicht schnell genug, sodass wir auch hier das Ziel, sie bis 2030 um 65 Prozent zu senken, deutlich verfehlen werden. Zwei Bereiche stechen besonders hervor: Im Gesundheitsbereich sinkt die Sterblichkeitsrate an sogenannten Zivilisationskrankheiten seit Jahren nicht mehr und ist noch zu hoch, und die Adipositas-Rate bei Erwachsenen steigt seit Jahren stetig an. Im Bereich Bildung ist ein Ziel, dass der Anteil der jungen Menschen ohne Abitur oder abgeschlossene Berufsausbildung maximal 9,5 Prozent betragen sollte. Das ist viel zu hoch! 2014 war das Ziel erreicht, nun liegen wir bei 12 Prozent.
Hat Deutschland auch Ziele zu sogenannten Spill-over-Effekten, also die negativen Auswirkungen, unseres Wirtschaftens oder Investitionen auf andere Länder oder das Klima?
Das hat lange gefehlt, inzwischen deckt der Rohstoffindikator aber auch die Importe ab, es gibt ein Ziel zu nachhaltigen Lieferketten, zur internationalen Klimafinanzierung und zum internationalen Waldschutz und zu ausländischen Studierenden aus Entwicklungsländern. Das könnte sowohl bei uns als auch international noch ausgebaut werden, und es ist auch eine Empfehlung in unserem Bericht, solche Ziele mit in die Aktionspläne aufzunehmen.
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