Häme in Kommentarspalten: Die Schuldfrage
Oft wird Opfern die Schuld an einem Verbrechen oder Vergehen zugewiesen. „Selber Schuld“ heißt es dann. Woher kommt das Victim blaming?
W enn wir uns als Kinder wehtaten, wurde unser Vater oft wütend und schimpfte uns aus. Je doller wir uns verletzten, um so verzweifelter war er, und umso mehr schimpfte er. Wir wundern uns heute noch darüber, wie unser Vater immer gerade dann böse wurde, wenn wir Trost gebraucht hätten. Unser Vater war allerdings ein durchaus mitfühlender, warmherziger Mensch, der nicht gewalttätig und ansonsten auch nie wütend wurde. Deswegen war diese Sache für uns Kinder so schwer zu verstehen.
Vor Kurzem las ich, wie ein junger Hamburger in Magdeburg in einer Straßenbahn fast totgeschlagen wurde. Er hatte sich eingemischt, als eine Gruppe Jugendlicher randaliert hatte. Leider wird unter solchen Berichten nicht die Kommentarfunktion abgeschaltet, und ich hoffe dann sehr, dass die Angehörigen nicht auf die Idee kommen, solche Sachen nachzulesen. Denn es passiert immer dasselbe: Einige weisen dem Opfer die Schuld zu. Er hätte sich nicht einmischen dürfen. Er hätte abwägen müssen. Selber schuld. Hämisch geradezu sind solche Kommentare. Wütend.
Ähnlich schlimme Reaktionen gibt es, wenn zum Beispiel Radfahrer von einem abbiegenden LKW überfahren werden. Vielleicht hatten sie grün. Vielleicht waren sie, verkehrsrechtlich gesehen, im Recht, aber wer in einer solchen Situation, wenn er sich einem Stärkeren gegenübersieht, auf seinem Recht besteht, der wäre – selber schuld.
Selber schuld ist das Schlagwort. Das hat man auch Kindern früher gesagt – und manche tun das auch heute noch – wenn sie sich, aufgrund Wagemutes, aufgrund einer Regelverletzung, weh taten. Selber schuld. Soll das trösten? Soll das helfen? Kinder sollen vielleicht erzogen werden. Es soll ihnen nicht noch einmal passieren. Aber was nützt es, gegenüber einem totgefahrenen Menschen, solch einen Kommentar abzugeben?
ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Es scheint ein Verhalten mit sehr alter Tradition zu sein, den Schwächeren, die sich gegenüber den Stärkeren im Recht befinden, in der Ausübung diesen Rechtes aber zu Schaden kommen, hämisch ein „selber schuld“ zuzurufen. Auch und gerade, wenn diese Hämischen selbst unter der Herrschaft Stärkerer zu leiden haben. Ein entflohener Sklave, der eingefangen und ermordet wurde, war sicherlich in den mündlichen Leserkommentaren der damaligen Zeit immer selber schuld.
Was wirft man diesen Opfern von Gewalt dann vor? Dummheit, Leichtsinn, Mutwillen vielleicht, sie selbst hätten mit ihrem Leben gespielt, es wäre ihnen gar nichts passiert, wenn sie sich nur richtig verhalten hätten. Diese Schuldzuweisung nennt man auch Victim blaming, der Begriff kommt aus dem Bereich der sexuellen Gewalt, wenn zum Beispiel dem Opfer vorgeworfen wird, es hätte mit seiner Kleidung die Gewalt „provoziert“. Victim blaming finden wir in jeder Kommentarspalte zu Unglücken aller Art.
Aber woher kommt die Häme? Dafür reicht eine Kolumne nicht aus. Aber wir können alle ein wenig studieren und nachlesen, denn auch in uns selbst lauert solch ein Verhalten. Eine Erklärung (das Thema ist natürlich noch viel komplexer), die ich fand, war, dass wir uns sicher fühlen wollen, dass wir uns vormachen, in einer Welt zu leben, die geordnet und voraussehbar ist. Eben solche Vorfälle zerstören aber diese Illusion, und da flüchten wir uns in Erklärungen, die es uns ermöglichen, diese Illusion von Ordnung wiederherzustellen.
Wir selbst würden nicht bei Grün fahren, wir würden erst den LKW vorbeilassen, wir würden uns auch nicht in das Tun randalierender Jugendgruppen einmischen, deshalb würde uns das alles nicht passieren, deshalb sind wir sicher. Wut empfinden wir auf jene, die dieses Gefühl von eigener Unsicherheit in uns auslösen, indem sie zum Opfer werden.
Nur, wirklich gefährlich ist aber genau diese Einstellung, denn wir können jederzeit zum Opfer werden, wir leben in keiner absoluten Sicherheit, und deshalb sind wir auf eine Gemeinschaft angewiesen, deren Stärken Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Solidarität sind.
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