Hackerauflauf in Berlin: Codename Satzungsänderung
Seit Ex-Agenten, Whistleblower und Hacker Berlin als neues Mekka feiern, treibt auch die Vereinsmeierei neue Blüten. Langsam wird es eng.
BERLIN taz | Es ist Dämmerstimmung, gerade geht die Sonne unter und über der Spree verdunkelt sich nach und nach der Himmel. Hier an der C-Base, eine der Hauptniederlassungen der Berliner Hackerszene, spricht gerade eine Frau über eine andere Weltuntergangsstimmung. Sie heißt Annie Machon und ist eine frühere Agentin des britischen Geheimdienstes MI5. Heute ist Machon als Vortragsreisende unterwegs und kämpft entschlossen für Whistleblower und gegen die staatliche Massenüberwachung. Nun auch mit einem neuen Projekt: „Code Red“ („Alarmstufe Rot“).
Seit den Enthüllungen Edward Snowdens ist die liberale Hauptstadt Berlin im datenschutzsensiblen Deutschland zum kleinen Mekka der internationalen Hackerszene geworden. So weit bekannt. Nun verhilft der große Zulauf, den die Stadt erhalten hat, so langsam auch der Vereinsmeierei zu neuen Blüten. Insbesondere internationale Organisationen sind derzeit dabei, den Berliner Markt für sich zu erschließen.
Etwa das britische Centre for Investigative Journalism (CIJ), das sich auf die technische Ausbildung von Journalisten spezialisiert hat, will in Berlin künftig eigener Dependance vertreten sein. Das dürfte durchaus nachgefragt werden, denn es gibt großen Nachholbedarf, etwa bei der technischen Alphabetisierung von Aktivisten oder Journalisten.
Andererseits sind bereits etliche Organisationen genau damit beschäftigt: So bietet das Tactical-Tech-Kollektiv seit Langem sehr erfolgreich genau solche Trainings an – Hauptsitz: Berlin. Auch Organisationen wie Reporter ohne Grenzen sind in dem Feld aktiv. Daneben betreiben etliche Gruppen länger schon erfolgreiches Lobbying auf der Straße und im Bundestag. Oft geht das fruchtbar Hand in Hand – manchmal aber verdoppeln sich schlicht die Strukturen.
Dass Annie Machon, die in ihren Vorträgen gern in düsteren Farben die Schlapphutarbeit der Geheimdienste beschreibt und auch mit ihrem neuen Projekt betont auf Militärsprache setzt, über interessante Netzwerke verfügt, ist keine Frage. Code Red – das soll nun ein neues „Clearing House“ sein, „Stakeholder“ vernetzen, mit einem selbstgewählten Aufgabenspektrum, das sich sehen lässt.
Die Initiative will Whistleblower und Journalisten, Hacker und Politiker zusammenbringen und außerdem die Unverständigen dieser Republik auf den Pfad des Begreifens begleiten. Eine neue Herzkammer soll es laut Selbstdarstellung sein, Zentrum eines abermals neuen Netzwerks. Doch: Ist dies alles nicht eigentlich genau das, was der Chaos Computer Club schon seit 30 Jahren tut? Mit tausenden Mitgliedern?
Nur wenige Stunden vor dem Launch des neuen Projekts saß einer der Sprecher des Chaos Computer Clubs noch adrett im Sakko zur Anhörung als Sachverständiger im Innenausschuss des Bundestages. Und so lächeln auch viele in der Hackerszene über die neue Initiative, die zwar niemanden stört, aber doch viele fragen lässt: Ist das noch produktive Vermehrung oder schon fast ein Verdrängungskampf? Codename: Satzungsänderung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen