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Habichte im Kreml

Foto: Kirill Kudryavtsev/afp

Von Thomas Gerlach

Alle sagen: Kreml, Kreml. Alle haben mir schon von ihm erzählt. Ich selbst aber habe ihn noch nie gesehen.“ So berichtet es der Schriftsteller Wenedikt Jerofejew in seinem berühmten Buch „Die Reise nach Petuschki“. Darin reist der Protagonist dann aber vor allem ins Delirium. Es wird der bekannteste Alkoholrausch der Weltliteratur. Wie anders kann man den Kreml auch ertragen als mit Realitätsverweigerung und Wodka?

Jerofejew, der mal als Heizer, mal als Monteur und mal in einer Pfandflaschenannahme arbeitete, beschrieb seinen Vollrausch 1969. Da war Leonid Breschnew Hausherr im Kreml. Heute ist es Wladimir Putin. Der greise Breschnew hatte in der Endphase seiner Herrschaft, Weihnachten 1979, Soldaten nach Afghanistan kommandiert. Putin hat sich für die Ukraine entschieden.

Der Moskauer Kreml ist seinem Ursprung nach ein militärisches Bauwerk von gewaltigem Ausmaß. 27 Hektar beansprucht das dreiseitige Areal im Herzen von Moskau. Die Türme und Mauern des Kreml wurden Ende des 15. Jahrhunderts von italienischen Baumeistern entworfen und er war Sitz der Großfürsten und Zaren. Peter, später der Große genannt, verlegte Anfang des 18. Jahrhunderts seine Residenz von Moskau nach St. Petersburg. Erst der antizaristische Lenin, ausgestattet mit untrüglichem Gespür für die Wurzeln von Macht, verlegte in einer Nacht- und Nebelaktion die Residenz 1918 wieder nach Moskau. Heute ist der Kreml Weltkulturerbe, Museum, Präsidentenresidenz, Militärstützpunkt und Macht­zentrum. Es gibt eine Unzahl versiegelter Türen, es gibt unterirdische Gänge und es gibt einen Bunker, der Atomschlägen standhalten soll. Irgendwo da steht auch der Atomkoffer des Präsidenten.

Der Kreml ist tödlich. Manch einer, der hineinging, kam nie wieder heraus. In seinen Mauern erstreckt sich ein Friedhof. Vor seinen Mauern liegt Stalin begraben. Auf der Großen Moskwa-Brücke, direkt am Kreml, wurde am 27. Februar 2015 Boris Nemzow ermordet. Der Politiker Nemzow stand für Hoffnung. Kremlherr Boris Jelzin liebte den jungen Politiker mit seiner anpackenden Art, entschied sich aber dann doch für Putin.

Der Kreml hat etwas Deprimierendes. „Der Fürst allein kontrolliert alles“, notierte ein päpstlicher Legat in den 1580er Jahren. „Die Ehrerbietung, die dem Fürsten entgegengebracht wird, ist etwas, das sich kaum begreifen lässt.“ Die Krönung heißt inzwischen Amtseinführung. Sonst hat sich wenig geändert.

Neuerdings werden im Kreml sogar Habichte gehalten. Sie sollen die vielen Krähen töten, die mit ihren Krallen und Schnäbeln die goldenen Zwiebeltürme ruinieren. Zuvor taten das die Falken. Aber sie waren, so würde es Wladimir Putin wohl formulieren, nicht effektiv genug.

Manchmal aber geht auch dem Kreml die Kraft aus. Im Dezember 1991 lag Michail Gorbatschow in einem der Zimmer auf der Couch. Wie ein Feldherr sei der neue Präsident Boris Jelzin gerade über das Parkett davongeeilt, erzählte der sowjetische Perestroika-Präsident, Tränen in den Augen, seinem Freund Alexander Jakowlew laut dessen Memoiren „Die Abgründe meines Jahrhunderts“.

Wer weiß, welche Abgründe uns in diesem Jahrhundert noch erwarten. Einer hat sich gerade aufgetan. Im Untergrund des Kreml, unter den Festungsmauern, befindet sich eine öffentliche Toi­lette, sehr sauber und ordentlich. Das ist das freundlichste, was man derzeit vom Kreml berichten kann.

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