Grundbetreuung für Kinder in Berlin: Die Armut von nebenan
Manche Eltern haben keine Zeit, mit ihren Kindern zu basteln, zu spielen, zu reden. Das Schutzengel-Haus in Berlin setzt etwas dagegen.
Das in sich gekehrte Mädchen reckt ihren dunklen Wuschelkopf bei der Erinnerung. Sie sitzt am langen Allzwecktisch des Vereins. Am anderen Ende verspachteln gerade zwei Jungen ihr Mittagessen. Die Köchin hier komponiert das Essen gesundheitsfördernd: Fleischgibt’s nur zweimal die Woche.
Defnes Onkel Murat Aydıner spielt gerade gegen ein Schülerteam Tischtennis. Er trägt eine martialische Mongolenfrisur: einen Lowcut mit längerem Haar nur auf dem Oberkopf, wo es in einer akkuraten Quaste gipfelt – ein starker Kontrast zu seinen soften braunen Augen. Dazu fällt locker ein hellblaues Hemd über seinen propperen Bauch – den braucht er für die Vaterrolle in diesem Laden.
Im Tandem mit einer Expertin fürs Geschäftliche leitet Aydıner heute das Haus. „Beim Pingpong kann man prima schüchterne Jugendliche aufbauen“, erklärt er. Sozial, kulturell oder materiell benachteiligte Kinder und Jugendliche sind die Zielgruppe der Berliner Kinderhilfe Schutzengel. Sie sollen hier fürs Leben gestärkt werden. Die einst mittelständischen Wohnblocks um die Friedrichsruher Straße verarmen zusehends. Es gibt dort heute viele Arbeitslosengeld- II-Empfänger, fast 45 Prozent der Kinder unter 18 stammen aus Migrantenfamilien. Träger der Kinderhilfe Schutzengel ist die Johannes Kinder- und Jugendförderung Deutschland, ein 2013 gegründeter gemeinnütziger Verein, der von Spenden lebt.
Nach Studien der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 wächst in der Bundesrepublik jedes fünfte Kind (2,1 Millionen) unter fünfzehn Jahren in einer Familie mit Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze auf. Dies bedeutet vor allem Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe. Nach diesen Untersuchungen kann das staatliche Unterstützungssystem Kinderarmut nur unzureichend auffangen. Außerdem: Auch einfach überforderte sowie drogen- oder internetsüchtige Eltern schaffen es oft nicht mehr, sich regelmäßig um ihre Kinder zu kümmern.
„Das geht dann so weiter“
Zu Beginn kursierten in der Gegend allerhand Einwände gegen das Schutzengel-Haus, erzählt Bianca Sommerfeld, Pressesprecherin des Vereins. „Vor allem hatte man etwas dagegen, dass wir die Kinder hier völlig unentgeltlich betreuen. Das sei keine Hilfe zur Selbsthilfe, wenn der Nutznießer so gar nichts beiträgt. Vielleicht meinte man, in einem so bürgerlichen Bezirk könnten alle Familien ein bisschen zahlen.“
Zehn ErzieherInnen betreuen im Schutzengel-Haus täglich 35 bis 45 SchülerInnen im Alter von sieben bis fünfzehn Jahren. Die PädagogInnen stimmen überein: „Etwa 60 Prozent unserer BesucherInnen kommen aus sozial benachteiligten Haushalten oder haben Eltern, die nicht mehr mit ihnen spielen, basteln, backen, Geburtstage feiern oder ihre Hausaufgaben betreuen können.“ Manche Kinder werden auch körperlich vernachlässigt. „Wenn jemand die ganze Woche das selbe T-Shirt an hat oder oft ungewaschen ankommt“, berichtet Murat Aydıner, „reden wir mit den Eltern. Und dann die Essgewohnheiten!“ Einem Geschwisterpärchen rieselten oft Lebensmittelreste hinterher. Anfangs hätten sie die Hühnerknochen unter den Tisch geworfen und einmal – beim Schwimmen – Eierschalen in den Umkleideraum. Peinlich!
Am großen Gemeinschaftstisch wird jetzt ein Kindergrüppchen ganz leise, sogar die zappelige achtjährige Katja – sie malen, ein jedes, was es will, mit der aus Johannesburg stammenden Montessori-Pädagogin und Yogalehrerin Josefine Winter. Aus zartem, blassen Gesicht ruft sie später entschlossen: „Schon nach zwei Strichen fragen sie mich: Ist das schön? Und wenn sie dann mehr gemalt haben, meinen sie: Na, das wird wohl nichts! Das geht dann in ihrem ganzen Leben so weiter!“
Mindestens die Hälfte der ihr Anvertrauten litten unter starkem Mangel an Selbstbewusstsein und Neugierde, konstatiert die 26-Jährige: „Da ist kein eigener Wunsch mehr, etwas zu lernen. Lernen ist Schule, und Schule ist doof.“ Das Kind sei dort nur so viel wert wie seine Noten, klagt sie: „Und zu Hause ist immer nur das Kind schuld an einer schlechten Note. Ich hätte nicht gedacht, dass in dem anscheinend so progressiven Deutschland das Erziehungssystem so rückständig ist.“
Kein Geld für Ausflüge
„Dass wir hier nicht ständig angemeckert werden“, loben die meisten SchülerInnen im Schutzengel-Haus. Am besten aber gefallen Ihnen die gemeinsamen, für alle unentgeltlichen Ferienfreizeiten und Ausflüge in die Berliner Umgebung. Alle erhalten hier eine Art bedingungslose Grundbetreuung, ob sie nun aus gut verdienenden Mittelstandsfamilien kommen oder aus Hartz-IV-Haushalten.
„Wir machen in der Familie keine Ausflüge“, berichtet Katja, eine quecksilbrige Achtjährige mit blonden Haaren, die wild gestikuliert: „Meine Mutter spart, mein Vater spart, und meine Schwester spart!“ Leiter Aydıner sagt später: „Manche Familien müssen an allem sparen, manche sind geizig, und gerade bei Migrantenfamilien scheint mir oft, dass sie alles für ein Projekt in ihrer alten Heimat zurücklegen.“
Die PädagogInnen im Schutzengel-Haus haben meist eine professionelle Ausbildung, aber nur das Leben selbst bereitete Murat Aydıner auf diese Aufgabe vor. Auch in ihm erschafft und findet ein Kind hier vieles, was es einst vermisste. Der Vierzigjährige stammt aus einer türkischen Familie. Dass seine Eltern das Beste für ihn täten, davon war er nicht mehr überzeugt, als sie ihn im Alter von dreizehn Jahren mit einer Cousine verloben wollten. „Ich dachte: Wenn für die mein Leben ohnehin geplant ist, brauch ich mich ja nicht mehr anzustrengen. Dann kam ich auf die schiefe Bahn und schmiss nach zwei Klassen das Gymnasium.“
Ein Onkel hielt Murat Aydıners freien Fall auf. Der heutige Leiter heiratete eine türkische Deutschlehrerin, aber zum Schutzengel-Haus kam er eigentlich als Kickboxtrainer. Er fordert „Distanz“ und „Respekt“ im Umgang mit den Kindern: „Wir fragen nicht unnötig nach ihren Familien. Wir bauen hier einfach eine Gegenatmosphäre auf, in der sie sich wohl fühlen.“
Viele Alleinerziehende
Mindestens 60 Prozent der Mütter aller im Schutzengel-Haus Betreuten sind alleinerziehend. Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge von der Uni Köln wirft dem Staat vor, er habe noch keine Antwort gefunden auf die neuen Partnerschaftsformen und die steigende Zahl Alleinerziehender. Sieghard Kunze vom Jugendamt Berlin Steglitz Zehlendorf weist diesen Vorwurf zurück. „Ich glaube schon, dass wir bereits jetzt eine Antwort geben können. Der Staat leistet zunehmend mehr Hilfen zur Erziehung und steigt auch sehr viel früher und umfänglicher in die Betreuung und Unterstützung von Kindern ein. Wir müssen möglichst schnell Kontakt zu Familien herstellen. Nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist“.
Ein Unterschied bleibt: Im Schutzengel-Haus kann man auf lange Bewilligungswege verzichten – ob nun ein Flüchtlingsjunge einen Anwalt braucht oder ein Kind am Schwimmunterricht teilnehmen möchte. Alles geht sofort. Und: Der schulische Druck soll draußen bleiben. Vor großen Feiern läuft das Team zur Hochform auf: backt, bastelt, organisiert Spenden für Geschenke an die Kinder. Dass diese genügend Glückshormone produzieren, dafür sorgen sie selbst durch Tanzeinlagen, zum Beispiel mit Zumbatrainerin Mareike Lißner.
Lange tanzte die 23-Jährige nur privat. Bis sie eines Tages vorbeikam und ein paar Stunden gab. Heute ist sie hier Mädchen für alles und höchste Autoritätsperson der Kinder. Dies verdankt sie auch ihrem Äußeren, das ihr den Spitznamen „Barbie“ eintrug. Sie käme aus dem Einzelhandel und wolle in absehbarer Zeit eine Ausbildung in kreativem Marketing machen, berichtet sie. Es klingt wie eine Bewerbungsvorlage. Doch dann bricht sich ihre persönliche Geschichte hier Bahn. Mareike Lißner erzählt von Liebesbriefchen der Kinder, von Blumen, von ungeahnter Wertschätzung. „Ein-, zweimal die Woche werde ich hier bestimmt weiter unterrichten“, schließt sie: „Ich hoffe so sehr, dass dieses Haus lange erhalten bleibt. Dass alle hier zusammen erwachsen werden!“
* Alle Kindernamen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge