Grünen-Absage an Cem Özdemir: Ein Hauch von Tragik

Die Grünen haben sich gegen ihren Star Cem Özdemir als Fraktionsvorsitzenden entschieden. Das klingt verrückt, ist aber trotzdem richtig.

cem Özdemir lächelt und trägt ein blaues Jackett

Bester Redner bei den Grünen: Cem Özdemir Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Es gibt eine schlichte, aber beliebte Lesart der Entscheidung der Grünen-Bundestagsfraktion. Sie lautet in etwa: Ja, sind die Grünen denn verrückt geworden, dass sie Cem Özdemir nicht zum Chef machen? Den besten Redner der Fraktion, dieses Schwergewicht mit seinen vielen Talenten? Warum verzichten sie ohne Not auf einen Promi in der ersten Reihe, den fast alle Deutschen kennen und viele mögen?

Das sind berechtigte Fragen, aber ein bisschen genauer hinschauen sollte man dann doch. Denn die Fraktion hat in Wirklichkeit sehr genau nachgedacht – und klug entschieden.

Zwei valide Gründe hätten für Cem Özdemir gesprochen: Mit seiner Performance, seinen rhetorischen Fähigkeiten, seinem Talent zur Zuspitzung stellt er eindeutig Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, die alten und neuen ChefInnen, in den Schatten. Wie der Charismatiker Özdemir die AfD im Plenum vorführt, ist zweifellos sensationell.

Der „anatolische Schwabe“ (Ö. über Ö.) wäre außerdem in der Lage, Milieus in der bürgerlichen Mitte anzusprechen, die früher ihr Kreuz bei der CDU machten. Der Ultrarealo, der früh Kontakte zu UnternehmerInnen knüpfte, strahlt weit über die grüne Kernklientel hinaus. Das ist ein Pfund, das zählt.

Ein Performanceproblem hat die Ökopartei nicht

Aber wahr ist auch: Diese Qualitäten werden bei den Grünen gerade nur bedingt gebraucht. Niemand würde im Ernst behaupten, dass die Ökopartei ein Performanceproblem hätte. Dafür tanzen Robert Habeck und Annalena Baerbock zu kunstfertig im Rampenlicht, dafür funktioniert die Rollenverteilung zwischen Partei- und Fraktionsspitze zu gut. Es schadet nicht, dass jeder weiß, wo sein Platz ist.

Auch den Schritt in die liberale, bürgerliche Mitte – wie auch immer man sie definieren möchte – haben die Grünen längst geschafft. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen sind massenhaft WählerInnen von CDU und CSU zu den Grünen übergelaufen.

Ein Fraktionschef Özdemir würde also Probleme adressieren, die im Moment nicht existieren. Viele Abgeordnete haben das verstanden. Und bei der Wahl eine Risikoabwägung vorgenommen, die für Özdemir schlecht ausfiel. Es gab ja lange Phasen in seiner Biografie, in denen er nicht gerade als Teamplayer aufgefallen ist. Und das ist vorsichtig formuliert.

Wer sich um eine Führungsrolle bewirbt, muss sich an seiner Vergangenheit messen lassen. Özdemir konnte die Zweifel nicht ausräumen.

Die Jahre, in denen er mit Simone Peter die Partei führte, waren fürchterlich. Es gab Intrigen zu besichtigen, unschöne Szenen, offene Verachtung – und Özdemir spielte dabei eine ungute Rolle. Natürlich kann ein Politiker dazulernen, und Cem Özdemir hat bewiesen, dass er dazu in der Lage ist. Aber klar ist auch: Wer sich um eine Führungsrolle bewirbt, muss sich an seiner Vergangenheit messen lassen. Özdemir konnte die Zweifel der Fraktion nicht ausräumen.

Es ist etwas aus der Mode gekommen, bei Personenwahlen über Inhalte zu sprechen. Meist geht es in den Analysen um Charisma, Rhetorik und Verkaufe. Reden wir also mal über Inhalte, ausnahmsweise.

Cem Özdemir steht am konservativen Rand der Grünen. Er will Außenpolitik bekanntlich nicht mit der Yogamatte unter dem Arm machen. Mit Umverteilung von oben nach unten kann er wenig anfangen, eine Vermögensteuer hält er für eine linke Verirrung. Geld möchte er lieber in Schulen stecken, statt Hartz-IV-BezieherInnen allzu großzügig zu bedenken. Auch für die Wünsche der Wirtschaft hat er Verständnis, vielleicht etwas zu viel.

Die Grünen von heute ticken anders, radikaler, progressiver oder, um mal den Begriff zu verwenden, den sie am liebsten nicht mehr hören wollen: linker. Sie werben für den Abschied von Hartz IV und eine sanktionsfreie Grundsicherung, für einen starken Staat und mehr Daseinsvorsorge, für eine härtere Ordnungspolitik und weniger Markt. Özdemir passt dazu nicht ideal. Ein Bundestagswahlkampf, wie ihn Özdemir und seine Co-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt 2017 verantworteten, wäre heute undenkbar. Vielleicht muss man kurz an ihn erinnern.

Zahme Grüne agierten damals wie eine Regierung in der Opposition. Sie boten sich der Merkel-Union als willige Partner an und vermieden alles, was dem Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hätte sauer aufstoßen können. Ängstlich wirkte das, devot und rückgratlos. Das Ergebnis ist bekannt: Die Grünen holten 8,9 Prozent und stellen seither die kleinste Fraktion im Parlament. Für ein ähnliches Ergebnis wurde Jürgen Trittin 2013 vom Hof gejagt.

Nicht Aufbruch, sondern Reise in die Vergangenheit

Özdemir hatte also seine Chance, sein Konzept ist gescheitert. Auch hier kann man einwenden, dass er die Dinge heute anders analysiert. Aber viele Abgeordnete sahen sein Angebot eben nicht als Aufbruch, sondern als Risiko für eine Reise in die Vergangenheit. Zumal ein Sieg Özdemirs das Aus für Anton Hofreiter bedeutet hätte. Dessen Auftritte funkeln nicht, zugegeben, aber inhaltlich ist er für die Grünen unverzichtbar. Den kompetentesten Öko in der Führungsriege aus dem Spiel zu nehmen, ist angesichts der Zuspitzung der Klimakrise eine abenteuerliche Idee, auch mit Blick auf eine künftige Regierungsbeteiligung.

Dennoch: Die Niederlage Özdemirs umweht ein Hauch Tragik. Kaum ein Grüner genießt in Unternehmerkreisen eine solche Credibility wie er – und Vertrauen ist für den sozialökologischen Umbau der Wirtschaft entscheidend.

Dann wäre da seine Biografie, deren gesellschaftspolitischer Wert gar nicht überschätzt werden kann. Özdemir, das Kind türkischer Gastarbeiter, das sich von ganz unten hochgearbeitet hat, ist einer der wenigen Spitzenpolitiker überhaupt mit Migrationshintergrund. Dieser Mann ist ein Role Model für viele.

Die Grünen täten gut daran, ihm die Bühne zu geben, die ihm gebührt. Auch wenn es mit der Fraktionsspitze nicht geklappt hat.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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