Grüne über Abtreibungsdebatte: „Strafe schreckt ab“
Der Paragraf 218 stellt Abtreibungen unter Strafe. Die Bundestagskandidatin der Bremer Grünen, Kirsten Kappert-Gonther, will ihn abschaffen.
taz: Frau Kappert-Gonther, Sie wollen im September in den Bundestag einziehen – mit dem Ziel, das Abtreibungsrecht zu legalisieren. Das ist ein Thema, für das sich Ihre Partei lange nicht mehr interessiert hat.
Kirsten Kappert-Gonther: Das stimmt nicht. Wir Grünen haben uns immer für die weibliche sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung eingesetzt. Das Strafrecht ist kein geeignetes Mittel, um in eine so vielschichtige Entscheidung wie einen Schwangerschaftsabbruch einzugreifen.
Aber explizit abschaffen wollte Ihre Partei den Paragrafen 218 das letzte Mal 2002 – dann wurde die heutige Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckhardt Fraktionschefin, die Abtreibungen ablehnt.
In der Haltung, dass Frauen weder bevormundet noch kriminalisiert werden sollen, wenn sie eine solch schwierige Entscheidung treffen müssen, sind wir Grünen uns einig. Es gibt aber unterschiedliche Auffassungen, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Auch ich denke, momentan ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ein neues Gesetzgebungsverfahren zu starten.
Warum nicht?
Ich habe angesichts des derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Klimas Sorge, dass sich konservative Kräfte durchsetzen könnten, die mindestens zurück wollen zur Indikationsregelung, die bis 1995 galt.
50, Grünen-Politikerin, ist Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, seit 2011 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft und kandidiert für den Bundestag.
Weil Frauen danach begründen mussten, warum sie das Kind nicht austragen wollten?
Ja, die jetzt geltende Fristenregelung ist demgegenüber eine deutliche Verbesserung, und die Situation ist für Frauen in Westdeutschland so gut wie nie zuvor. Für Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, gilt zurzeit de facto Straffreiheit, und sie bekommen in der Regel eine Versorgung auf hohem medizinischem Niveau.
Dann ist ja alles prima.
Nein. Ich halte es für falsch, dass ein Schwangerschaftsabbruch immer noch unter Tötungsdelikten im Strafgesetzbuch steht und die angedrohte Strafe nur unter bestimmten Umständen ausbleibt. Das hat Folgen für die Frauen und für die Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Und damit meine ich nicht nur, dass dies ohnehin vorhandene Scham- und Schuldgefühle verstärkt.
Sondern?
Es gibt zunehmend Probleme, eine wohnortnahe Versorgung aufrechtzuerhalten. Das hat auch damit zu tun, dass die Generation der FrauenärztInnen in den Ruhestand geht, die die heißen Debatten um den Paragrafen 218 mitbekommen haben. Damit geht auch medizinische Expertise verloren, denn in den Curricula des Medizinstudiums und der FrauenärztInnen werden Abbruchmethoden nicht regelhaft gelehrt – weil es eine rechtswidrige Handlung ist. Ich höre von Kolleginnen, dass die Strafandrohung viele junge Ärzte und Ärztinnen abschreckt. Das medizinische Zentrum von Pro Familia in Bremen findet zum Beispiel keine deutschen Ärztinnen mehr und greift wie früher auf Kolleginnen aus Holland zurück.
Es gibt im Westen und im Süden Regionen, wo es im Umkreis von 100 Kilometern und mehr keine Klinik oder Praxis gibt, die Abtreibungen durchführt.
Das ist auch eine Folge des Paragrafen 218. Solange der Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch verortet ist, finanzieren auch die Krankenkassen diesen nicht, und die Kliniken müssen ihrem Sicherstellungsauftrag nicht nachkommen.
Finden es problematisch, dass Frauen so weit fahren müssen?
Ja, weil es möglich sein muss, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer Klinik oder Praxis zu fahren und zurück. Das ist auch eine finanzielle Frage. Die Transportkosten werden nicht übernommen, und nach einer Vollnarkose müssen sie sich begleiten lassen, also vielleicht für eine zweite Person mitzahlen, das kann teuer werden. Andere Frauen machen die Entscheidung ganz alleine mit sich selbst aus. Sie müssen die Möglichkeit einer örtlichen Betäubung haben oder des medikamentösen Abbruchs, damit sie ohne Begleitung fahren und ihre Intimsphäre wahren können.
Die Ehe für alle ist mehrheitsfähig – aber eine Legalisierung des Paragrafen 218 nicht?!
Derzeit nicht, nein. Das bedeutet, dass wir die gesellschaftliche Debatte um weibliche Selbstbestimmungsrechte wieder stärker führen müssen. Mein Eindruck ist, dass das Thema wieder ins Private abgedrängt worden ist. Da waren wir schon weiter.
Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
Selbstbestimmung ist eines meiner zentralen politischen Anliegen, auch in der Behindertenpolitik, in meinem Einsatz für bessere psychiatrische Versorgungsangebote und im ganzen feministischen Diskurs. Als Ärztin ist mir an einer optimalen medizinischen Versorgung gelegen. In einer solchen Notsituation brauchen Frauen Unterstützung – der Paragraf 218 behindert diese. Es gibt allerdings auch einen positiven Aspekt.
Der wäre?
Der Abbruch ist nur straffrei, wenn die Frau sich vorher von einer anerkannten Beratungsstelle hat beraten lassen – die Länder müssen deshalb für ein ausreichendes Beratungsangebot sorgen und dieses auskömmlich finanzieren. Wenn man den Paragrafen 218 abschafft, muss gesetzlich geregelt sein, dass diese Beratungen weiter angeboten werden.
Als Pflicht?
Ich bin für freiwillige Beratungsangebote, weil der Zwangskontext behindert, dass Frauen sich ihre ambivalenten Gefühle eingestehen können. Wer mit einer inneren Haltung in die Beratung geht, ich muss alles tun, damit ich den Schein bekomme, hat es schwer, sich den eigenen widersprüchlichen Gefühlen zu stellen – und die gibt es immer, wenn Frauen sich fragen, ob sie eine Schwangerschaft austragen oder abbrechen wollen.
Woher wollen Sie wissen, dass es die gibt?
Es ist eine zutiefst ethische Frage, welchem Lebensbereich eine Frau in diesem Moment ihres Lebens den Vorrang gibt. Diese Zerrissenheit spüren Frauen unterschiedlich deutlich, und es ist auch unterschiedlich ausgeprägt. Nach einer Vergewaltigung wird eine Frau weniger ambivalent sein als in einer intakten Beziehung, in der sich beide Kinder wünschen, aber eben nicht zu diesem Zeitpunkt. Dieser Ambivalenz muss Raum gegeben werden.
Warum?
Weil die Entscheidung so besser integriert werden kann, weil sie nachvollziehbar bleibt. Alle fragen sich früher oder später, war das richtig oder falsch. Dann ist es wichtig, dass eine Frau weiß, was sie gegeneinander abgewogen hat und warum sie sich schließlich so entschieden hat. Ich erlebe das in meiner psychotherapeutischen Praxis. Die Frauen, die ihre Ambivalenzen zugelassen haben, haben später weniger Schuldgefühle. Das heißt nicht, dass sie nicht im Nachhinein denken können, ach hätte ich das Kind bloß bekommen. Aber sie wissen, warum sie es damals nicht wollten oder konnten.
Was halten Sie von der Bedenkpflicht, wonach Frauen verpflichtet sind, ihre Entscheidung zu überdenken?
Ich finde es richtig, dass zwischen der Feststellung der Schwangerschaft und dem Abbruch Zeit vergehen muss, weil so eine Entscheidung, wie ich gerade sagte, reifen muss. Drei Tage finde ich sogar sehr wenig, um das vollständig innerlich zu erfassen. Die meisten, die ich kenne, haben länger gebraucht.
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