Grüne nach der Urwahl: Ein neues Verhältnis zur Gesellschaft
Mit den Parteireformern Özdemir und Habeck könnte die Aufteilung in „Realos“ und „Linke“ enden. Das würde Chancen auf einen Neustart bieten.
Ein wirklich guter Partei- und Wählerkenner sagt, dass die Grünen-Mitglieder und Grünen-Wähler in ihrer Mehrheit „normale Menschen“ seien. Das mag für manche Berliner Funktionäre eine schlimme Nachricht sein, klingt nach baden-württembergischen Verhältnisse.
Vielleicht ist es aber einfach so, dass Grünen-Mitglieder sich halt auch die Welt anschauen und Sorgen machen. Und es sind eben nicht mehr die Sorgen der 1990er Jahre. Und dann sehen sie den Parteichef Cem Özdemir im Fernsehen im Gestus des Staatsmannes verbal Kante zeigen. Gegen Putin, Erdoğan und den IS. Und denken nicht „Superrealo“ oder „super angepasst“, wie manche immer noch höhnen, sondern „ganz vernünftiger Typ“. So wie ich oder wie die Fraktionschefin und nunmehr zweite Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt. Und vernünftige Spitzenpolitiker, das ist doch im internen Parteienvergleich schon mal was.
Die Frage bleibt aber: Reicht das für die Grünen, und was machen sie daraus?
Wenn sie nun etwas daraus machen, dann sollte das Ergebnis der Urwahl das offizielle Ende der grünen Aufteilung in „Realos“ und „Linke“ sein. Denn weder haben die einen gesiegt noch die anderen verloren. Das alte interne Funktionärskarrieremodell für Oppositionskultur interessiert die Mitglieder nicht mehr. Die Welt draußen sowieso nicht.
Neues Verhältnis zur Gesellschaft
Der große Urwahlerfolg von Schleswig-Holsteins Vizeministerpräsident Robert Habeck, der ganze 0,2 Prozentpunkte hinter Özdemir auf dem zweiten Platz der parteiinternen Abstimmung landete, verdankt sich neben der Person seinem schleswig-holsteinischen Prinzip. Dieses kreist nicht um Lager, interne Flügel und Lobbypolitik, sondern ringt stattdessen um ein neues und egalitäres Verhältnis zur Gesellschaft. Neu ist daran die Auffassung, dass die Welt sich nicht zu den Grünen zu verhalten hat, sondern die Grünen sich zur Welt.
Die Grünen wissen also nicht alles besser, sie haben aber Essenzielles beizutragen. Nicht allein Bioeier und Emanzipationssprüche, sondern auch die Linderung zentraler Probleme, die sich aktuell stellen. Und diese können die Grünen sich nicht aussuchen. Sie müssen auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren und sich bewegen. Wenn man in den letzten Wochen genauer hinhörte, gerade was die Rhetorik der Mitbewerber anbetrifft, könnte man glauben, Habecks Modell der Erneuerung sei auch in Berlin angekommen. Ist es nicht.
Aber offenbar bei den Mitgliedern. Das Votum von knapp zwei Dritteln der 61.000 Mitglieder, der minimale Abstand zwischen Fotofinishsieger Özdemir (35,9 Prozent) und Habeck (35,7) deute aber auch auf eine grundsätzliche Schwäche dieser Teilgesellschaft: Die Grünen tun sich immer noch schwer, klare Entscheidungen zu treffen.
Neustart und Weiter-so-Bedürfnis
Die Sehnsucht nach einem Neustart in der Bundespolitik sowie das milieuübergreifende Weiter-so-Bedürfnis stehen gleich stark nebeneinander. Die Welt könnte 2019 untergehen, doch manche Politikbeamte in der Grünen-Fraktion würden bis 2029 mit einer Kandidatur warten, weil sie dann erst „dran“ sind. Habeck dagegen kandidierte ohne Sicherheitsnetz, obwohl er nicht dran war. Weil es jetzt gilt. Das sehen offenbar viele Mitglieder auch so.
Auf der anderen Seite scheint ihnen Özdemir die „sichere“ Wahl zu sein. Nicht nur der Kandidat, der dran ist. Sondern auch der, der zur Weltlage passt. So könnte man es sogar als Weisheit verstehen, den potenziellen Außenminister Özdemir in die mediale Arena zu schicken. Seine (Wieder)geburt wird parteiintern auf den Tag gelegt, als er den wahren Satz sagte, man könne den Terror des IS nicht mit Jogamatten bekämpfen. Seither wird er ernst genommen, auch in der richtigen Welt.
Man könnte Spitzenkandidat Özdemir klassisch gesellschaftsliberal deuten, den Sohn türkischer Einwanderer zum europäischen Signal ausrufen. Das wäre mehr so Cohn-Bendit-Style. Oder kleingeistig: voll angepasst Richtung Schwarz-Grün. Das wäre Spiegel- oder Augstein-Kolumnen-Phrase. Alles von gestern.
Respekt durch Blitzatomausstieg
Dieses Jahr wird innenpolitisch geprägt von denen, die mit wütenden Rufen („Merkel muss weg“) in die Wahl ziehen; den Populisten der AfD, aber auch einigen in der Linkspartei. Grünen-Wähler haben indes eher positive Gefühle für die CDU-Kanzlerin, seit sie in zugespitzter Krisensituation im Herbst 2015 zeitweise die deutschen Grenzen für Flüchtlinge öffnen ließ. Respekt erwarb sie sich zuvor mit dem Blitzatomausstieg nach Fukushima. Jetzt gewann sie auch die grünen Herzen.
Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, aber es ist so. Letztlich war ihre Humanität Politik unter Zeitdruck. Aber beide Seiten, Kritiker wie Befürworter, haben das mythisiert. Merkels reale Geflüchtestenpolitik spielt auf beiden Seiten keine so große Rolle. Merkel ist so für viele Grüne zum positiven Symbol der Verteidigung des Status quo geworden – auch wenn dies zukunftzerstörende Privilegien für asoziale Unternehmen beinhaltet – als Garantin einer offenen Gesellschaft, der EU und des Zusammenhalts des Westens im Zeitalter von Putin und Trump.
Es gibt ein grundsätzliches Sicherheitsbedürfnis, ein Gefühl, dass die Lage ernst ist – und nur Angela Merkel den Tanz auf den Pulverfässern einigermaßen hinkriegen kann. Ob das wirklich so ist, spielt keine Rolle. Wenn sie unter dieser Fahne antritt und die C-Parteien sich wieder eingekriegt und eingereiht haben, dann wird Merkel schwer zu schlagen sein. Schon gar nicht von Parteien oder Politikern, die den Leuten ihr Sedativum des Vertrauens wegnehmen wollen. Da kriegen sie erst recht Angst.
Endlich Kohleausstieg möglich machen
Es geht bei der kommenden Bundestagswahl also wieder mal darum, ob die SPD erneut als Juniorpartner unterkriecht. Oder ob erstarkende neue Grüne die drohende Dauerkoalition unterbrechen, die sozialökologische Wende mit einem Machtprojekt verknüpfen und endlich den Kohleausstieg möglich machen, die sich aber vor allem als bessere Komplementäralternative zur Verteidigung der offenen Gesellschaft positionieren – im Land, in der EU, gegenüber der Türkei und dem Westen.
Die Grünen müssen also – auch das ist Habeck – die SPD herausfordern, die liberalen unter deren Wählern ansprechen, denen die Partei in dieser Hinsicht nicht geheuer ist. Ebenso Unionswähler, denen die CSU nicht geheuer ist. Es würde aber auch schon helfen, sich nicht in gesellschaftsfernen Metadebatten zu verheddern, mit denen die neue Koalition im Land Berlin gerade ihre Zeit vergeudet.
Robert Habeck könnte also der sein, der das Innen erneuert, als Partei- oder als Fraktionsvorsitzender. Cem Özdemir könnte der bekannte Grüne sein, dem die Gesellschaft vertraut. Aber wird die Partei so professionell und vertrauensvoll zu Özdemir stehen, dass er im Wahlkampf größer werden kann? Oder wird sie nicht doch lieber gegen den Ministerpräsidenten Kretschmann kämpfen?
Regierungsfähige Verantwortlichkeit
Und noch etwas wäre neben Geschlossenheit und einer gemeinsamen Haltung im Wahlkampf wichtig: den Ernst der Lage nicht mit Angstschweiß und Phrasen zu transportieren, sondern durch Leichtigkeit und authentische Rhetorik manches auch als zu bewältigen erscheinen zu lassen. Grüne Eigenständigkeit, gepaart mit regierungsfähiger Verantwortlichkeit.
Wenn die Grünen als Partei allerdings davon selbst nicht überzeugt sind, dann wird es auch die Gesellschaft nicht sein. Sollten sie ihren alten Krempel durchziehen, dann werden viele verloren gehen. Gabriel baut fest darauf. Lindner auch.
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