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Grotesk verkannte Ziegelsteine

■  Folge eins der Doku-Reihe „Die Mauer“ beleuchtet eine Phase deutsch-deutscher Geschichte, die man für ebenso überinterpretiert wie untererklärt hielt (21.45 Uhr, ARD)

Am 9. November jährt sich der Tag des Mauerfalls zum zehnten Mal. Gedenkreden und Zeremonien stehen an, deren man vielleicht schon vorab müde ist.

Über die Mauer, so glaubt man, lässt sich nicht mehr viel Neues sagen und schon gar nichts, an das man gern erinnert werden möchte. Eine nachträgliche historische Rechtfertigung dieses grotesken Baus ist nicht möglich, obwohl sich der Essayist Heinrich Senfft in seinem neuen Buch an ihr versucht: Die Mauer, schreibt er, disziplinierte beide Weltblöcke und ermahnte sie zur Vorsicht. Mindestens 420 Menschen starben bei dem Versuch, die Mauer zu überwinden. Chris Gueffroy war der letzte; im Februar 1989 wurde der Achtzehnjährige erschossen.

Der Tod von Chris Gueffroy schließt den ersten Beitrag einer Dokumentation in sechs Teilen zur Mauer ab. „Beton und Stacheldraht“ lässt hoffen, was die folgenden fünf Teile der Serie angeht. Autor Jens Nicolai buchstabiert eine Phase deutsch-deutscher Geschichte, die man gleichermaßen für überinterpretiert und untererklärt hielt, in mustergültiger Ausgewogenheit durch. Zu Wort kommen nämlich Staatsfunktionäre und Privatpersonen beider Seiten, Politiker, Grenzer, sowjetische und US-Offiziere, Journalisten, Fluchthelfer, Flüchtlinge und einer jener Ostberliner Maurer, die die Mauer in den heißesten Tagen des Kalten Krieges hochziehen mussten. Dabei erfährt der Zuschauer Erstaunliches.

Etwa, dass die Mauer von westlicher Seite zu Anfang nicht ernst genommen wurde. Die Alliierten konnten sich einfach nicht vorstellen, wie es logistisch überhaupt möglich sein sollte, einen Teil der Stadt zu isolieren – etwa mit ein paar Ziegelsteinen? Entsprechend entspannt fielen dann auch die Reaktionen amerikanischer Politiker um den 13. August herum aus: Kennedy war – und blieb – beim Segeln, sein Außenminister genoss ein Baseball-Spiel. In Westberlin rang man indes die Hände. Johnson, der den seltsamen Mauerbau vor Ort überprüfen und einschätzen sollte, interessierte sich mehr für den Erwerb schwarzer Slipper. Seinetwegen wurden geeignete Geschäfte auch abends geöffnet. Adenauer stellte sich immerhin dem neuen Problem einer wachsenden Wand um Westberlin, auch wenn er meinte, dass „kein Grund zur Panik bestehe“.

Die starke Verkennung der historisch brisanten Lage durch die Politiker ist ein unerwarteter und grotesker Moment des Films. Autor Nicolai enthält sich dennoch streng jeder Wertung. Er lässt die Zeitzeugen reden, und auch seine Schnitt- und Montagetechnik verzichtet auf tendenziöse Auslegung des Materials.

Das ist Geschichte, sagt dieser Film, und kein fortgesetzter Versuch, sich nachträglich auf die Gewinnerseite zu schlagen. Sowohl Nicolais komplexe Genauigkeit als auch die Abwesenheit interpretatorischer Arroganz nimmt stark für seinen Film ein. Der Kommentar zum Thema liegt sowieso im Material. Hier hat Nicolai wenig Bekanntes aus den Archiven erlöst: Politikerreden, private Erinnerungen und Ausschnitte aus DDR-Ausbildungsfilmen für Grenzer ergänzen sich. Besonders eindrucksvoll diese Lektion: Wie erledige ich den Flüchtenden effektiv? Als Zuschauer kommt man nicht umhin, die Unverhältnismäßigkeit zu vergleichen: hier Todesschützen, dort Diplomatie. Ein 18-Jähriger muss 1961 an der Mauer verbluten, weil amerikanische Offiziere ihn medizinisch nicht versorgen lassen. „Not our problem!“, hieß es.

Administrative und Exekutive – der Zuschauer erlebt die Politik jener Tage als einen Eiertanz in historischen Grauzonen, der sich für die Flüchtlinge als tödlich erweist. Keiner weiß, wie mit dieser Mauer umzugehen ist – doch beide Seiten möchten bald ideologisches Kapital aus ihr schlagen. Dieser Aspekt macht die Fluchtszenen aus dem Filmarchiv noch unmittelbarer.

Anke Westphal

Immer mittwochs. Mehr zum Thema: Ab 7. Oktober wiederholen ORB, 3sat, N3 und Phoenix die erste Staffel der Grimmepreis-gekrönten Dokumentation „Chronik der Wende“. Ab 20. Dezember zeigt der MDR die neue zweite Staffel.

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