Großdemonstration in der Türkei: „Das hat mir wieder Mut gegeben“
Immer mehr Menschen schließen sich dem „Marsch für Gerechtigkeit“ an, der Sonntag in Istanbul enden soll. Teilnehmer schöpfen wieder Hoffnung.
Sie hat sich Urlaub genommen und marschiert nun schon seit drei Tagen mit im „Marsch für Gerechtigkeit“, jeden Tag rund 20 Kilometer unter praller Sonne und auf glühend heißem Asphalt. Die Stimmung ist trotzdem bestens. „Wir werden von Tag zu Tag mehr, jeder in der Türkei hört uns.“
Auch am Straßenrand fiebern die Leute zunehmend mit. Am Mittwochmittag wird der Marsch in Hereke erwartet, einem kleinen Ort an der vierspurigen Schnellstraße nach Istanbul, direkt am Marmarameer. „Bald kommen sie“, rufen die Leute sich zu, als die ersten Versorgungsbusse Hereke passieren. Vor lauter Polizei ist von den Demonstranten zunächst allerdings nichts zu sehen.
Am Morgen hatte die Polizei sechs angebliche IS-Attentäter festgenommen, die einen Anschlag auf den Marsch vorbereitet haben sollen. Als die Vorhut der rund 30.000 Marschierer nun in Sicht kommt, fahren zunächst Panzerwagen und Räumfahrzeuge der Polizei vorneweg. Dann ist die Polizeieskorte um die Teilnehmer so eng, dass man sich kaum dazugesellen kann.
Man könne der Justiz nicht mehr vertrauen
Kemal Kılıçdaroğlu, der Initiator des Marschs und neuer Held der Türkei, wird an diesem Tag unmittelbar von mehreren Journalisten begleitet, die angeklagt, aber noch nicht in Haft sind. Unter ihnen ist Erdem Gül, Hauptstadtkorrespondent von Cumhuriyet, der gemeinsam mit Can Dündar wegen angebliches Geheimdienstverrats belangt werden soll. Den letzten Anstoß für den Marsch hatte ja die Verhaftung des CHP-Parlamentariers und Journalisten Enis Berberoğlu gegeben, der Cumhuriyet angeblich das Material für ihre Enthüllungsgeschichte über illegale Waffentransporte nach Syrien geliefert haben soll und deshalb zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde.
Viele Teilnehmer tragen weiße Kappen und weiße T-Shirts, jeweils mit dem Aufdruck „Adalet“, Gerechtigkeit. Der Zug ist so lang, dass man ihn von keiner Stelle aus überblicken kann. Im hinteren Teil sind weniger Polizisten, man kann sich etwas freier bewegen. Drei junge Studenten sind erst an diesem Morgen dazugestoßen und wollen jetzt bis Sonntag nach Istanbul mitmarschieren. „Viel zu spät“ habe sich Kılıçdaroğlu aufgerafft, sagt einer, der Internationale Beziehungen studiert. „Die CHP hätte viel früher auf die Straße gehen müssen“. Diese Kritik am Chef der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, ist in der Türkei weit verbreitet. Kılıçdaroğlu, der „Gandhi“ der Türkei, galt bislang als zu schwach und zu milde, um dem aggressiven Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan etwas entgegensetzen zu können.
Doch seit der 68-Jährige marschiert, wächst die Zustimmung für den Oppositionsführer. Geschickt hat Kılıçdaroğlu auf jede Parteifolklore verzichtet. Er lädt jeden und jede ein, mit ihm gemeinsam „Gerechtigkeit“ zu fordern. Angesichts der massenhaften Verhaftungen und Entlassungen (rund 50.000 verhaftet, 150.000 gefeuert), seitdem am 20. Juli letzten Jahres der Ausnahmezustand eingeführt wurde, bezeichnen rund 75 Prozent der Türken fehlende Gerechtigkeit als Problem. Auch etliche AKP-Anhänger sagen mittlerweile, dass man der Justiz nicht mehr trauen kann.
„Wir müssen unsere Stimme wieder hörbar machen“
Kılıçdaroğlu hat es deshalb geschafft, weit über die Anhängerschaft der CHP hinaus Menschen für seinen Gerechtigkeitsmarsch zu mobilisieren. Viele schöpfen wieder Hoffnung, seit sie sehen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Eine ältere Türkin, die in Nordamerika lebt, ist extra für den Marsch in ihre alte Heimat gekommen. „Wir müssen unsere Stimme wieder hörbar machen“, sagt sie. „Wir sind mit der Regierung nicht einverstanden, die Welt soll das sehen. Schreiben Sie darüber.“ Viele Türken befürchten, dass die Welt den Kampf um die Demokratie in ihrer Heimat verloren gibt, nachdem Erdoğan das Referendum über die Einführung des Präsidialsystems im April knapp für sich entschied. Die Opposition hatte ihm Wahlmanipulation vorgeworfen.
„Aber wir werden weiterhin für unsere Demokratie streiten, sowohl im Parlamentals auch auf der Straße“, bekräftigt auf dem Marsch Utku Çakıröze, Abgeordneter der CHP und vorher auch Journalist. „Die Regierung kann den Marsch nicht mehr ignorieren und ist sehr nervös. Sie befürchtet, ihre Heldenfeierlichkeiten zum Jahrestag des Putschversuchs am 15. Juli werden durch unseren Marsch in den Schatten gestellt“, sagt er. Am Sonntag in Istanbul werden wir über eine Million Demonstranten sein“.
Wie geht es dann weiter? Kemal Kılıçdaroğlu hat es erstmals seit Jahren geschafft, die Menschen gegen die Willkür der Regierung zu mobilisieren. „Es ist ein neues Bewusstsein entstanden“, glaubt Utku Çakıröze, „das wird unseren Kampf für Demokratie enorm unterstützen – sowohl im Parlament als auch bei weiteren Aktionen auf der Straße. Erdoğan wird das zu spüren bekommen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben