Kommentar Großdemo in Istanbul: Der Mut ist zurück

Der „Marsch für Gerechtigkeit“ hat das Klima in der Türkei verändert. Der öffentliche Aufschrei gibt den Verzweifelten wieder Hoffnung.

Eine Menschenmenge unter einem großen roten Tuch

Fast zwei Millionen Menschen jubelten Kemal Kılıçdaroğlu am Sonntagabend in Istanbul zu Foto: ap

Die türkische Opposition lebt. Immer dann, wenn es so scheint, als sei nun endgültig Friedhofsruhe in der Türkei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingekehrt, zeigt sich: das unbedingte Verlangen nach Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit ist nicht auf Dauer zu unterdrücken. Und: der öffentliche Aufschrei kommt für alle überraschend.

Das war schon im Sommer 2013 so, als niemand damit rechnen konnte, dass aus einem lokalen Widerstand gegen die Vernichtung eines Parks plötzlich ein landesweiter Aufstand werden würde. Und das ist auch jetzt nicht anders. Denn wer hätte damit rechnen können, dass ausgerechnet der CHP-Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu nach sieben Jahren als relativ wirkungsloser Oppositionsführer plötzlich zum Volkshelden wird?

Doch genau das ist passiert. Fast zwei Millionen Menschen jubelten Kemal Kılıçdaroğlu am Sonntagabend in Istanbul zu, als er nach 26 Tagen Fußmarsch für die Gerechtigkeit bei seiner Abschlusskundgebung am Ufer des Marmara-Meeres die Freilassung der politischen Gefangenen, die Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz und das Ende des seit nunmehr einem Jahr andauernden Ausnahmezustandes forderte.

Ein Jahr, in dem Erdoğan alle Mittel eines autoritären Staates nutzte, um seine Kritiker mundtot zu machen – und nun das. Millionen Menschen zeigen: Wir sind noch da, wir wollen nicht mehr Schweigen und wir werden weiterhin für Gerechtigkeit und unsere Freiheit kämpfen.

Niemand weiß heute, wie das in den kommenden Monaten und Jahren konkret aussehen wird. Nur eines ist schon jetzt deutlich: Kemal Kılıçdaroğlu, dem so unscheinbaren Vorsitzenden der CHP, ist es gelungen, vielen Verzweifelten wieder Mut zu machen. Das wird den türkischen Präsidenten und seine Regierung nicht unmittelbar in Bedrängnis bringen, doch sind Zweifel an der Dauer seiner Herrschaft wieder erlaubt. Denn mit dem Marsch für Gerechtigkeit hat sich das politische Klima im Land geändert. Niemand ist allein und Widerstand ist möglich – das sind die Botschaften.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.