piwik no script img

Großbritanniens FlüchtlingspolitikEin Foto rührt ans Gewissen

Die Bilder eines ertrunkenen syrischen Kindes in der Türkei sind drastisch. In Großbritannien entzünden sie endlich eine außenpolitische Debatte.

Das Aufmacher-Bild von nahezu allen großen britischen Tageszeitungen am Donnerstag. Foto: ap

Es gibt Bilder, die sich ins Weltgewissen einprägen. Das weinende Mädchen in Vietnam, das nackt vor einem Napalmangriff davonrennt. Das verhungernde Mädchen im Südsudan, neben dem schon der Geier wartet. Und jetzt der ertrunkene syrische Junge, der mit dem Gesicht nach unten in der Brandung eines türkischen Strandes liegt.

Die Fotos, wie ein türkischer Polizist den Leichnam des dreijährigen Aylan Kurdi sachte wie eine zerbrechliche Puppe vom Sand gegenüber der griechischen Insel Kos hebt und davonträgt, gehen seit Mittwochabend um die Welt. Es sind nicht die ersten Bilder mit ikonischer Qualität von der europäischen Flüchtlingskrise. Man kann auch nicht behaupten, sie gäben der Krise ein Gesicht, denn es gibt schon Abertausende Fotos von Flüchtlingsgesichtern.

Es ist die Perspektive des Fotografen, die diese Reihe von Bildern so unter die Haut gehen lässt. Praktisch jeder Europäer hat schon einmal genau so irgendwo am Strand gestanden und genau so auf die Wellen geguckt. Jedem, das ist die Botschaft des Bildes, könnte plötzlich ein totes Kind vor die Füße gespült werden. Diese Krise geht alle an.

In Deutschland mag diese Einsicht längst angekommen sein. Für Großbritannien, wo während der Sommerferien die Flüchtlingskrise vor allem als Urlaubs-Behinderung wahrgenommen wurde, ist dieses Foto der Weckruf. Fast alle großen Tageszeitungen brachten es gestern auf dem Titel. „Unerträglich“ schlagzeilte der linke Daily Mirror. „Winziges Opfer einer menschlichen Katastrophe“ lautete die Schlagzeile des rechten Daily Mail. „Europa gespalten“, seziert die konservative Times, „Die schockierende, brutale Realität von Europas Flüchtlingskrise“ der liberale Guardian. Alle schreiben: Es muss etwas geschehen.

„Herr Cameron, der Sommer ist vorbei“

Am engagiertesten, und gemessen an früherer Hetze am überraschendsten, geht die in Reichweite und politischer Positionierung mit Bild vergleichbare Sun damit um. Sie zeigt das Foto der Bergung des Kinderleichnams in der Türkei neben einem Foto eines Neugeborenen aus dem Budapester Bahnhof und darüber eine Mahnung an den Premierminister: „Herr Cameron, der Sommer ist vorbei. Jetzt kümmere dich um Europas größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.“

Der Leitartikel fordert Cameron auf, „denjenigen zu helfen, die ohne eigenes Zutun um Leben und Tod kämpfen“: Es sei richtig, die Syrien-Flüchtlinge aufzunehmen. Darüber hinaus müsse Großbritannien den IS in Syrien bombardieren, „als ersten Schritt“, und in Libyen „die Ordnung wiederherstellen“.

Camerons konservative Regierung steht in der Flüchtlingspolitik nicht gut da. In vier Jahren 5.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen ist keine Großtat. Demgegenüber steht, dass Großbritannien sehr viele Migranten aufnimmt – ein positiver Zuwanderungssaldo von 330.000 im vergangenen Jahr, viele davon Arbeitssuchende aus Osteuropa – aber das ist auch wieder das Gegenteil dessen, was Cameron versprochen hatte. Der rechtspopulistische UKIP-Führer Nigel Farage haut ihm das ständig um die Ohren und verlangt mehr „echte“ Flüchtlinge aufzunehmen.

Außenpolitischer Sündenfall

Von den Linken, allen voran der aussichtsreichste Labour-Führungskandidat Jeremy Corbyn, ist dazu nichts zu hören außer der Kritik, Großbritannien habe mit dem Irakkrieg zur aktuellen Lage beigetragen. Umgekehrt erinnern Kommentatoren daran, dass vor ziemlich genau zwei Jahren die Labour-Opposition im Parlament, verbündet mit rechten Tory-Abweichlern, ein militärisches Eingreifen in Syrien nach den Giftgasangriffen des Assad-Regimes stoppte. Das gilt so manchen jetzt als Sündenfall, der den Aufstieg des IS, den Zerfall Syriens und die Flüchtlingskrise von heute begünstigt habe.

Insofern geht die Schockwirkung des toten Aylan in Großbritannien über den Impuls hinaus, endlich mehr für Flüchtlinge zu tun. Auch die eigene Außenpolitik steht auf der Anklagebank – vom Eingreifen im Irak zum Nichteingreifen in Syrien – und damit das eigene Selbstverständnis. Kann man durch Handeln etwas Gutes bewirken? Dann reicht Hilfe für Flüchtlinge nicht aus. Oder ist es besser, nichts zu tun? Dann dürfen einem auch die Flüchtlinge egal sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Wie wäre es, wenn nun (endlich..) Russland, als Freund von Syriens Assad Regierung und deren Legalität, aktiv wird, um Syrien zu `befrieden´um endlich zivile Lebensbedingungen für die gemarterte syrische Bevölkerung zu reetablieren ???

    Könnte so etwas den Flüchtlingsstrom eindämmen? Wäre so etwas überhaupt möglich?

  • 3G
    3784 (Profil gelöscht)

    Manchen Menschen könnte das tote Kind auch auf den Bauch gelegt werden, es würde auch dann nichts nützen. Denn das einzige, was ihnen dazu einfiele, wäre die Empörung, dass sie dies widerlich fänden.

  • Wer nicht hinschaut, kann nichts sehen (Krabat)! Europa ist eine Werte-Gemeinschaft? Seit 2008 hätten wir es wissen können und an Griechenland wurde es deutlich. Im Wahlkampf 2013 sagten die Christlich - Sozialen Parteien Deutschland geht es gut, wir sind Export - Weltmeister.

    Diese Aussage hat sich im Zeitalter der Kommunikation verbreitet und zeigt sein schreckliches Antlitz. https://www.dropbox.com/s/s8kdj4vcdrgdaw2/Screenshot%202015-08-13%2014.46.26%20Kopie.png?dl=0

  • Ich habe, ehrlich gesagt, kein gutes Gefühl bei der Verbreitung der Fotos des Kinds.

     

    Als wäre es nicht schlimm genug, dass ein Kind ertrunken ist, wird sein Leichnam auch noch nachträglich instrumentalisiert. Und selbst wenn noch so lautere Absichten dahinter stecken mögen, ich finde es widerlich.

  • Wie liebevoll der Polizist diesen kleinen Jungen trägt. Es ist zum weinen.

  • Bevor Brenner den arabischen Frühling in ganz Nahost einläutete hat keiner aus den US Eliten auch nur einen Gedanken an Kinder verschwendet die dann gemordet werden könnten. Auch die jeweils willigen Eliten in Europa haben allenfalls statistisch über tote Kinder nachgedacht. Und nun soll das ganze Völkerwanderproblem in einem Bild focusiert werden. Und wenn Flüchtlinge über den Kopf europäischer Regierungen selbst bestimmen wollen wo sie hinziehen wollen und auf welchen Wegen ist dieses Einzelschicksal keines dass nicht immer wieder geschieht. Wenn auch die westliche Hegemoniale Politik der USA die Völkerwanderung verursacht hat so sind die Syrer in der Türkei von keinen Bombardements und von keinen Kriegshandlungen bedroht. Kriegsflüchtige können legal in der Türkei die Einreise nach Deutschland betreiben. Müßen nicht auf Holzplanken in die EU reisen. Träger falscher gefälschter syrischer Papiere aber schon