Grönemeyer, eine Schule, eine Stadt: Herbert, Bochum und ich
Herbert Grönemeyer feiert das 40-jährige Jubiläum seines Albums „4630 Bochum“. Unser Autor hätte als Schüler fast dazu getanzt. Doch es kam anders.
Wahrscheinlich hätten wir das auch gehört. Und versucht, dazu zu tanzen. Mitzusingen. Wir hatten schließlich was zu feiern vor 40 Jahren. Gerade hatten wir die Abiturprüfungen hinter uns am altehrwürdigen Gymnasium am Ostring. Und gerade hatte einer, der ein paar Jahre zuvor an der gleichen Schule war, seine neue Platte rausgebracht: „4630 Bochum“, benannt nach der Postleitzahl der Stadt, in der er und ich groß geworden sind. Aber wir haben im Sommer 1984 nicht getanzt, nicht mitgesungen, jedenfalls nicht auf der Abifeier. Denn die fiel aus. Abgesagt vom genervten Rektor unserer ach so humanistischen Schule. Aber dazu später mehr.
Das 40-jährige Jubiläum des Albums, mit dem Herbert Grönemeyer der Durchbruch gelang, feiert er gerade mit einer luxuriösen Neuauflage. Mit einer Reihe von Konzerten, allein vier davon im ausverkauften Bochumer Ruhrstadion. Und mit Neuaufnahmen seiner Hits von damals.
„Männer“, diesen Lobgesang auf den nicht ganz so männlichen Mann, gibt es jetzt in einer Technoversion von Dilla.
„Flugzeuge im Bauch“, die wohl poetischste Frustabrechnung mit einer scheiternden Beziehung, singt Grönemeyer im Duett mit der 23-jährigen Rapperin Celine Dorka, die „eine sehr schöne Stimme“ habe. Und den Antisaufklassiker „Alkohol“ gibt es in einer angerappten Version von Chapo102.
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Herbert Grönemeyer „Bochum“
Es sind, böse gesagt, Anbiederungen an den musikalischen Zeitgeist. Eher flacher noch, als man die Originale im Ohr hat. Aber wenn man das alte Album auf den Plattenteller legt, erkennt man schnell: Das waren die Ursprungversionen ja auch. Da springt einem der Sound der 80er in die Ohren. Saxophone quäken dudelnd vor sich hin, wie man das auch von Supertramp kannte. Dazu Keyboardsounds, wie sie 1984 in jedem guten Studio Standard waren. Die Musik war beim Phänomen Grönemeyer wohl nie das Ausschlaggebende. Der Text war seine Party – auch wenn man das so erst rund fünf Jahre später formuliert hätte, zu Beginn der gerade ebenfalls viel diskutierten Hamburger Schule, in klarer Abgrenzung allerdings zu Lyrik à la Grönemeyer.
Warmluftfetischist dank Staubsauger
Egal. Der alte weiße Mann jedenfalls hat ausgesprochen gute Laune. Grönemeyer geistert durch die zeitgemäßen Social-Media-Kanäle, erzählt in kurzen Videoschnipseln Dönekes von damals, immer mit angemesssenem Anflug von Selbstironie. Etwa, dass er nicht im Kindergarten war, weil er schon am ersten Tag festgestellt habe, „die sind alle bekloppt da“, und stattdessen immer hinter dem warmen Gebläse aus Mutters Staubsauger herkrabbelte. Dass er seither ein Warmluftfetischist sei und am besten Songs schreiben könne, wenn er einen Föhn auf seine Kopf richte.
So habe er damals zum Beispiel den Text für „Mambo“ geschrieben, diese Hymne auf die verzweifelt, verliebten Autofahrer auf Parkplatzsuche. Einen der fünf Singlehits aus dem Album, den es nun ebenfalls in einer Neufassung gibt. Im Duett mit Jeremias. „Sehr lässig, sehr cool“ sei die, freut sich Herbert. Der dickbebrillte ältere Herr ist sichtlich im Reinen mit sich selbst.
Damals war der Erfolg von Grönemeyer im Allgemeinen, von „Bochum“ im Speziellen, eine große Überraschung. Vier Alben hatte er zuvor schon rausgebracht. Bekannt war Herbert Grönemeyer aber bis dahin nur durch seine Rolle in dem Zweiter-Weltkiegs-Drama „Das Boot“. Schauspiel und Theater, das war bis dahin nicht das zweite, sondern eher das erste Bein des junges Mannes.
Grönemeyer war zu Beginn der 80er Jahre Pianist und musikalischer Leiter des Schauspielhaus Bochum, unter den Intendanten Peter Zadek und dann Claus Peymann eine der damals führenden Bühnen des Landes. Ein Eckpfeiler auch des intellektuellen Lebens, das sich mit der Neugründung der Ruhr Universität seit Mitte der 60er Jahre in der einst von Kohle und Stahl geprägten Stadt angesiedelt hatte.
„Du hast 'nen Pulsschlag aus Stahl, man hört ihn laut in der Nacht“, singt Grönemeyer bis heute in seiner Hymne auf die Stadt, die auch dem Album damals seinen Namen gab. Der Herbert darf das. Sein Vater war Bergbauingenieur. Aber die Zeit als das Grubengold, die Stadt wieder hochgeholt hatte, war Mitte der 1980er schon lange vorbei in Bochum. Und auch die große Ära des Stahlwerks Bochum. „Zeche“ hieß schon damals nur ein bis heute existierender Konzertschuppen, in dem natürlich auch Grönemeyer aufgetreten ist. Arbeiterstadt war Bochum vor allem durch die drei großen Opel-Werke, die mittlerweile aber auch schon lange wieder Geschichte sind.
Kaffeebecher mit der Aufschrift „Ruhrpott“
Tief im Westen verstaubt die Sonne schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Kohle, Stahl und Opel gehören nur zur Folklore der Stadt. Schwarze Kaffeebecher mit der Aufschrift „Ruhrpott“ gibt es in jedem Andenkenshop. Aber da sich kaum ein Tourist hierher verirrt, werden sie wohl in erster Linie von Bochumer:innen gekauft. Lokale Sentimentalitäten.
Der akademische Zirkel der Stadt dürfte Bochum aktuell mehr prägen als die rußgeschwängerte Vergangenheit. Er reicht von der vor fast 60 Jahren eröffneten Uni auf den Ruhrhöhen im Süden über das Schauspielhaus bis ins viel besuchte Ausgehviertel „Bermudadreieck“, das sich rund um die einstige Studentenkneipe Mandragora gebildet hat. In der trat damals nicht nur Herbert Grönemeyer auf. Sie darf sich wohl auch zu Recht dafür rühmen, dem Konzept Außengastronmie, also Tische und Stühle draußen vor dem Laden, mindestens im Ruhrgebiet, vielleicht aber sogar deutschlandweit zum Durchbruch verholfen zu haben.
Und eben bis zum Gymnasium am Ostring.
Das einst staatliche Gymnasium am Rand der Bochumer Innenstadt war ein Ort zur Pflege von Ständegesellschaft – auch wenn mir das erst im Rückblick klar wurde. In die „a“ eines jeden Jahrgangs durften die Kinder der Uniprofessoren, von Anwälten und vergleichbaren Stadthonoratioren. Mein Vater gehörte damals nur zum akademischen Mittelbau der Uni, folglich landete ich in der „Sexta b“. In die „c“ kam der ganze Rest. Und in die „d“ wurden diejenigen abgeschoben, die aufgenommen werden mussten, weil sie im Einzugsgebiet der Schule wohnten, aber – welch Frevel – statt Latein als erste Fremdsprache Englisch lernen wollten.
Kopfnüsse und „Guernica“
Das Lehrerkollegium bestand aus einer breitgefächerten Mischung. Einerseits die alten Haudegen unter den Lateinlehrern, die gern mal von den alten Zeiten schwärmten und sich empörten, dass sie nie wieder jemandem von uns Schüler:innen die Hand reichen würden, als ein paar Eltern sich über die Kopfnüsse beschwert hatten, die im Unterricht verteilt wurden. Und andererseits die erste Generation der damals noch sehr jungen Ex-68er, die uns in Projektwochen „Guernica“ von Picasso an eine Wand auf dem Schulhof pinseln ließ.
Anfang der 80er Jahre gab es immer wieder mal Diskussionen, ob sich die Schule nicht mal einen ordentlichen Namen geben sollte. Gymnasium am Ostring, das klang einfach nach nichts. Aber die Idee, das Haus nach einem prominenten Ex-Schüler zu benennen, wurde bald fallen gelassen. Grönemeyer war damals ja noch nicht in aller Munde. Zwar gab es mit Manfred Eigen einen echten Nobelpreisträger, er war 1967 für seine Arbeiten zur Geschwindigkeitsmessung von schnellen chemischen Reaktionen ausgezeichnet worden. Doch Eigen-Gymnasium, das klang ja noch seltsamer als Gymnasium am Ostring.
Bert Brecht und der gefakte Hitler
Eines Tages aber, wenn die Erinnerung nicht trügt im Jahr 1982, stand „Bert-Brecht-Schule“ in fetten Lettern über der Eingangstür. Und auch die Lokalausgabe der WAZ berichtete über die Neubenennung – unter Berufung auf eine Pressemitteilung, in der es unter anderem hieß, dass die Schule einst auch mal nach Adolf Hitler benannt gewesen sei. Letzteres war vollkommener Unsinn. Und auch die Pressemitteilung sah echter aus, als sie war. Die Aktion wurde damals als Abistreich verbucht, auch wenn wohl eher die umtriebige Theater-AG dahintergesteckt haben könnte. Jedenfalls wurde eine Delegation von Schüler:innen wegen der tollen Initiative ins Brecht-freundliche Schauspielhaus eingeladen.
So zumindest ist es in meiner Erinnerung abgespeichert. Ob es ganz genau so war? Und ob Grönemeyer, der Ostring-Abiturient von 1975 und Theater-Mitarbeiter 1982, damit irgendwas zu tun haben könnte? Das bleibt reine Spekulation.
Sicher ist nur: Hans-Werner Schmidt, der langjährige Direktor des Gymnasiums, war spätestens von da an nicht gut zu sprechen auf aufmüpfige Schüler:innen. Unseren Jahrgang hatte er ganz besonders auf dem Kieker, weil wir der erste waren, in dem zur Schande der Schule mangels Interesse kein Leistungskurs Latein zustande kam.
Nachdem aus mir nicht mehr erinnerlichen Gründen von der Schulleitung auch unsere Italien-Abifahrt abgesagt wurde, stieg eines Nachts nach den letzten Prüfungen eine Truppe in die Pausenhalle ein. Die Jalousie des Hausmeisterkiosks wurde mit einer spratzigen Tomate besprayt, inspiriert von dem damals aktuellen Trashfilm „Angriff der Killertomaten“. Und auf den Boden wurde eine überdimensionale Postkarte gepinselt, adressiert an „alle Leidenden“ der Schule.
Prompt cancelte Schmidt sämtliche Abifeiern. Die Zeugnisse durften wir irgendwo abholen, ohne Zeremoniell. Und tanzen zu Grönemeyer konnten wir folglich auch nicht. Nicht zu „Männer“. Nicht zu „Alkohol“. Und auch nicht zu „Mambo“.
Der Name der Schule blieb bis zu ihrem Ende unantastbar. Vor allem weil das Wort „Gymasium“ drin vorkam. Man wollte ja nicht irgendeine Schule sein. Sie wurde 2010 nach langer Debatte geschlossen und an anderer Stelle mit einer weiteren Schule unter dem noch nichtsagenderen Namen „Neues Gymnasium“ vereint.
Der Schulbau am Ostring wurde später abgerissen. Nur die Straßenfassade des Altbaus am Ostring durfte stehen bleiben. Hinter ihr befindet sich heute das Justizzentrum der Stadt. Vor Ort erinnert heute nichts mehr an die 150-jährige Geschichte als Lehranstalt. Zwar gibt es am Straßenschild an der Ecke einen Hinweis auf die Historie. Aber sie erzählt nur von Moritz Fiege, der die wichtigste Brauerei der Stadt grgündet hatte, und deren Brauhaus gleich hinter dem Gymnasium stand.
Eine viel zu oft gespielte Lokalhymne
Nur Grönemeyers Stadthymne begleitet mich bis heute. „Bochuum, ich komm aus dir …“, erklingt immer, wenn irgendwo in der Stadt was gefeiert wird. Als Mensch, der die Stadt vor Jahrzehnten verlassen hat, nimmt man es mit einer Mischung aus Ironie: Herbert, Bochum, ääh, Glück auf. Wenn einem alle Formen von Patriotismus suspekt sind, kann man an einer viel zu oft gespielten Lokalhymne auch nur leiden.
Nur wenn der VfL mal wieder mit nem Doppelpass jeden Gegner nass macht, so wie kürzlich, als er im Relegationsspiel gegen Fortuna – „wer wohnt schon in“ – Düsseldorf den fast schon sicheren Abstieg in die zweite Liga noch verhindern konnte, dann denkt man in einem Anflug von lokaler Sentimentailtät an den alten Song.
Zu meiner Überraschung fand ich das Album „4630 Bochum“ in meinem Plattenschrank. Keine Ahnung, wie es da hingekommen ist. Ich hätte gewettet, dass es damals allenfalls mein großer Bruder hatte.
Im Herbst wollen meine Mitschüler:innen „40 Jahre Abi“ feiern. Wahrscheinlich wird irgendwer den Song auflegen.
(geschrieben im Zug nach Bochum)
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