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Griechenland und die EUSyriza gewinnt Zeit und Raum

Ist die griechische Linke vor der EU eingeknickt? Für ein endgültiges Urteil ist es zu früh. Doch eine alternative Lesart ist möglich.

„Was kommt als nächstes?“: Graffiti in Athen. Bild: reuters

Wenn man den Schlagzeilen einiger Zeitungen glauben soll, sei also Athen vor den Forderungen der Eurogruppe in die Knie gegangen (La Repubblica) und mache bereits den Schritt zurück zur Fortsetzung der Austeritätspolitik (The Guardian). Auch nach Ansicht einiger führender Mitglieder der linken Fraktion von Syriza habe der Mut nicht weit gereicht, und die Selbstverleugnung habe schon begonnen …

Es ist noch zu früh, um ein Urteil über die Vereinbarungen beim Treffen der Eurogruppe zu fällen. Bereits jetzt aber schlagen wir eine andere Methode zur Analyse der Konfrontation zwischen der griechischen Regierung und den europäischen Institutionen vor. Die Erstere musste Kompromisse akzeptieren, auf der Gegenseite zeichnen sich Risse ab. An welchen Kriterien sollen wir das Vorgehen des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras und des griechischen Finanzministers Janis Varoufakis messen, um über dessen Wirksamkeit und Richtigkeit zu urteilen?

Wir schicken voraus, dass der durch den Wahlsieg von Syriza eröffnete Konflikt zu einem Zeitpunkt kommt, an dem sich Europa in einer zugespitzten Krise befindet. An den Grenzen der Union, im Osten, Süden und Südosten, toben Kriege. Bei Katastrophen im Mittelmeer ertrinken Tausende von Migranten. Beides vermittelt den Eindruck einer Auflösung des europäischen Raums.

Aber es gibt diesbezüglich auch andere Aspekte, und diese haben sich mit der Rezession der vergangenen Jahre in dramatischer Weise vervielfacht. Mehr oder weniger rassistische und neofaschistische politische Kräfte greifen überall auf dem Kontinent nach der Macht. In diesem Kontext erscheinen der Wahlsieg von Syriza und der Vormarsch von Podemos in Spanien wie eine einzigartige Chance, auf gesamteuropäischer Ebene eine linke Politik mit der Ziel der Gleichheit und Freiheit neu zu erfinden.

taz.am wochenende

Seine Mutter liegt im Wachkoma. Er möchte sie erlösen. Also beschließt Jan, sie zu töten. Die Geschichte über die Grenzen der Sterbehilfe lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28. Februar/1. März 2015. Außerdem: Unser Fotoreporter betrinkt sich mit Chinesen. Ein Jugendlicher erklärt Erwachsenen die Welt. Und: Das Erzbistum Köln legt seine Finanzen offen. Aber entsteht dadurch echte Transparenz? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Wir vergessen dabei nicht, dass dies durch außerordentliche Massenmobilisierungen gegen die Austerität in Griechenland und in Spanien überhaupt möglich wurde. Dieser Kampf, der sich „horizontal“ ausdehnte, stieß auf ebenso starke vertikale Grenzen: die Macht der Banken und Finanzinstitutionen im heutigen Kapitalismus und die dank der Krise entstandene neue politische Machtverteilung. Das heißt, der Kampf stieß auf das, was wir vor Jahren die „Revolution von oben“ genannt haben, dessen Instrument und Symbol die Troika war.

Konfrontation mit der „vertikalen“ Achse der Macht

Étienne Balibar

ist Philosoph und lehrte an der Universität Paris X (Nanterre). Er war ein enger Mitarbeiter von Louis Althusser und hat 1988 zusammen mit Immanuel Wallerstein den Klassiker „Rasse, Klasse, Nation“ veröffentlicht.

Auf diese Grenzen stieß Syriza unmittelbar, nachdem es ihr gelungen war, auf dem Terrain eine „vertikale“ Achse der Macht zu schaffen, indem sie den Ruf zum Widerstand gegen die Austerität in den Palästen Europas erschallen ließ. Augenblicklich war sie mit der etablierten Macht in Europa konfrontiert und der Gewalt des Finanzkapitals ausgesetzt. Es wäre naiv, zu meinen, die griechische Regierung könne allein diese Grenzen überwinden. Selbst ein Land mit viel mehr ökonomischem Gewicht und einer größeren Bevölkerung als Griechenland hätte nicht die Mittel dazu. Falls nötig, belegen die Ereignisse nur, dass eine Politik der Freiheit und Gleichheit sich in Europa nicht mit der bloßen Berufung auf nationale Souveränität herausbildet.

Und dennoch hat sich hinsichtlich dieser erwähnten Grenzen und der Möglichkeit, sie zu überwinden, etwas Neues ergeben. Die Kämpfe und Protestbewegungen hatten bereits ihren hässlichen Charakter entlarvt, der Sieg von Syriza und die Politik der griechischen Regierung sowie der Vormarsch von Podemos beginnen jedoch eine Strategie abzuzeichnen. Für uns ist es offensichtlich, dass ein Wahlsieg nicht genügt, und auch Alexis Tsipras hat dies nie verschleiert. Es braucht die Eröffnung eines politischen Prozesses, und dazu muss ein neues soziales Kräfteverhältnis in Europa entstehen und sich strukturieren.

Sandro Mezzadra

lehrt Politische Theorie an der Universität Bologna. Er ist Mitbegründer des italienischen Netzwerks UniNomade. Zusammen mit Judith Butler, Slavoj Zizek, Giorgio Agamben, Jean-Luc Nancy, Gayatri Spivak u. a. haben Balibar und Mezzadra am 19. Februar den Aufruf „Donnez sa chance à la Grèce!“ veröffentlicht.

Lenin hat einmal in etwa gesagt, es gebe Situationen, wo man Raum opfern müsse, um Zeit zu gewinnen. In Anwendung dieses Prinzips auf die Vereinbarungen vom Freitag vergangener Woche (ohne Gewähr, wie immer in der Politik) riskieren wir, die folgende Wette einzugehen: Die griechische Regierung hat tatsächlich „nachgegeben“, aber dies nur, um Zeit und Raum zu gewinnen. Das heißt, um der neu entstandenen Chance in Europa zu erlauben, bis zu den nächsten Terminen (darunter die Wahlen in Spanien) durchzuhalten, bis es auch den Vertretern der neuen Politik gelungen ist, mehr Raum zu erobern.

Damit dieser Prozess an Kraft gewinnt, muss er sich in den kommenden Monaten auf verschiedenen Ebenen weiterentwickeln. Es braucht zur Stärkung der Autonomie soziale Kämpfe und Bürgerinitiativen, neue Verhaltensweisen und eine andere Geisteshaltung der Bevölkerungen, Aktionen der Regierungen und der zivilen Gegenmacht. Auch wenn wir anerkennen, dass es von entscheidender Bedeutung ist, was Syriza derzeit unternimmt und was Podemos auf institutioneller Ebene zu tun beabsichtigt, müssen wir auch deren Grenzen betonen.

Es geht darum, die Gewalt der Austerität zu senken

In einem bemerkenswerten Artikel im Londoner Guardian zeigt Minister Varoufakis, dass er sich dessen ebenfalls völlig bewusst ist. Was eine Regierung heute tun kann, schreibt er, ist grundsätzlich nichts anderes, als zu versuchen, „den europäischen Kapitalismus vor seinem Hang zur Selbstzerstörung zu retten“, der eine Bedrohung für die Bevölkerung darstellt und dem Faschismus die Tür öffnet. Es geht darum, die Gewalt der Austerität und der Krise zu senken, um der Bewahrung und der Kooperation Raum zu geben, damit das Leben der Arbeiter – um mit den alten Worten von Hobbes zu sprechen – weniger „einsam, elend, gewaltsam und kurz“ ist. Nicht um mehr oder weniger geht es.

Befassen wir uns noch weiter mit der Äußerung von Varoufakis. Die Überwindung des Kapitalismus ist definitionsgemäß außer Griffweite einer Regierung, sei es in Griechenland oder anderswo. Abgesehen von der dringenden Rettung des europäischen Kapitalismus vor der Katastrophe, die auch uns treffen würde, zeichnen sich als Perspektive anhaltende soziale und politische Bewegungen ab, die sich nicht auf einen institutionellen Rahmen beschränken können. Genau auf diesem „anderen Kontinent“ muss ab sofort die kollektive Kraft entstehen, von der die Fortschritte der nächsten Monate und Jahre abhängen. Und das Terrain, auf dem diese Kraft zum Ausdruck kommt, kann nur Europa selber sein, im Hinblick auf einen grundlegenden Bruch mit seinem gegenwärtigen historischen Verlauf.

Darum sind Mobilisierungen wie die Bewegung Blockupy aus Anlass der Einweihung des neuen EZB-Sitzes am 18. März in Frankfurt so wichtig. Das ist eine Gelegenheit, der Stimme des europäischen Volkes zur Unterstützung der griechischen Regierung Gehör zu verschaffen. Abgesehen von der unbedingt notwendigen Verurteilung des Finanzkapitals und der postdemokratischen Macht (Habermas) ist dies auch eine Bewährungsprobe für das Erstarken der alternativen Kräfte, ohne die alles Handeln von Regierungen und Parteien gegen die Austerität zur Ohnmacht verurteilt wäre.

Aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Balmer

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3 Kommentare

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  • Ich bin dankbar für diese feine Darstellung.

    Tatsächlich würde ich die Tendenz im derzeitigen Kapitalismus als eine faschoide, zersetzende und antidemokratische bezeichnen.

     

    Ebenso hilfreich finde ich die Unterscheidung zwischen horizontaler Bewegung und vertikaler Machtstruktur. Allerdings, das haben wir beim Fall der Mauer gesehen: Macht beinhaltet lediglich die Chance, dass gefolgt wird, keine Garantie. Also braucht es "vertikal" vor allem eine Erinnerung an die historische und ideelle Grundlage für Europa.

    Das betrifft aus meiner Sicht eine zwei unterschiedliche Themenbereiche, die derzeit auseinanderklaffen: 1. Anerkennung der spirituellen und kulturellen Vielfalt. 2. Eine dienende Wirtschaft und unabhängige Wissenschaft.

     

    Beide Punkte wenden sich gegen den zunehmenden Kontrollwahn und Vereinheitlichung (Exklusion durch Schein-Individualismus).

     

    Ohne gesamteuropäische Regelwerke gegen parasitäre Finanzmarktgier wird Solidarität ein U-topos bleiben. Erst muss der Augiasstall ausgemistet werden, damit eine Finanz-Union und eine Verfassungs-Union auf neue beine gestellt werden kann, die den Namen Vereinigte Staaten von Europa verdient.

     

    Insofern muss das duldsame Hinnehmen der stereotypen Freie-Markt-Dogmen unterbrochen werden, bei der europäische Grundwerte mit Geld verwechselt werden.

     

    Dogmatischer Starrsinn und Arroganz muß neuen Argumentationsweisen weichen, die auf gesellschaftliche Ziele und eine wünschenswerte Entwicklung für die EU-Bevölkerungen hinweisen. Gewinnsteigerungen für Investoren sind kein Ziel der EU.

     

    Dazu muss zuerst die Illusion begraben werden, dass es einzig Gewinn-Wachstum und liberalisierte Märkte braucht, damit es den Bevölkerungen gut geht. Das gegenteil ist der Fall. Auch müssen wir uns einigen unbequemen Themen widmen, was grenzenlosen Zugang für alle zu allem angeht. Was Europa gewinnen kann wiegt mehr als Amazon, Apple, Samsung und Google je versprechen oder liefern können.

  • Das Fehlen jeder Reflexion über die künftigen ökonomischen Grundlagen "linker" Politik, die ja wohl nicht nur die wohlfeile Umverteilung oder den Kampf gegen den "Finanzkapitalismus", sondern auch eine effiziente und ökologische Produktionsweise ermöglichen müsste, sowie die Berufung auf den Putschisten Lenin zeigen, dass die Autoren keine Perspektive anzubieten haben. Ein solcher "Neosozialimus" ist genauso zum Scheitern verurteilt, wie der "Realsozialismus" à la SU, DDR, Kuba oder heute Venezuela. Schade, wie viel politische Energie mal wieder sinnlos vergeudet wird ...

  • Jahrzehnte an Vetternwirtschaft, Steuerhinterziehung und Korruption, sie lassen sich nicht in wenigen Monaten beseitigen; so auch selbst nicht kurzfristig nach einer (bereits überfälligen) sozialen Revolution in den Staaten der Europäischen Union!