Grenzschließungen wegen der Pandemie: Schlagbaum-Politik
Deutschland kontrolliert wieder Teile seiner Grenzen. Sinnloser Aktionismus, verständliche Notmaßnahme – oder schlicht unlösbares Dilemma?
Da lässt Deutschland von einem Tag auf den anderen nur mehr ausgewählte Menschen aus Tschechien und dem österreichischen Bundesland Tirol ins Land reisen. Wer nicht gerade in „systemrelevanten“ Berufen wie im Pflegeheim oder als Lkw-Fahrer tätig ist, wer keine Anmeldung vorweisen kann oder den negativen Coronatest vergessen hat, wer einfach nur die Nachbarn und Freunde besuchen möchte, der hat keine Chance. Er oder sie muss umkehren. Der Zugverkehr ist gestoppt, Busse fahren ohnehin nicht mehr.
Man kann die Sache so bewerten: Die Bundesrepublik verstößt mit diesem Grenzregime gegen den freien Personen- und Warenverkehr in der EU. Innenminister Horst Seehofer (CSU) begeht einen eklatanten Vertragsbruch. Die europäische Idee nimmt schwersten Schaden, ja, die Bundesrepublik demontiert damit einen Grundpfeiler der europäischen Einigung.
Sie sät neue Ressentiments gegen die Nachbarn, bringt zudem deutsche Handwerksbetriebe und den Mittelstand, die in der Grenzregion auf die Pendler angewiesen sind, in Existenznöte und gefährdet die pünktliche Warenlieferung für die Industrie. Die Maßnahme ist zudem sinnlos, denn das Virus schert sich nicht um Grenzen. Eine Katastrophe. Ja, sind die denn vom Schlagbaum getroffen worden?
Man kann das aber auch ganz anders betrachten. Wie als mit Grenzkontrollen sollen bayerische Grenzlandkreise wie Tirschenreuth jemals wieder auf nur halbwegs erträgliche Inzidenzzahlen in der Pandemie kommen? Nur diese Kontrollen können verhindern, dass infizierte Personen aus dem Nachbarkreis Cheb Covid-19 immer weiter verbreiten.
Ein klassisches Dilemma
Dort liegt die Inzidenz von mit dem Coronavirus infizierten Menschen bei über 1.000 auf 100.000 Personen. Als Tirschenreuth im Frühjahr gegenüber deutschen Nachbarkreisen isoliert wurde, gab es auch keinen Aufschrei der Empörung. In Tirol sind die Zahlen zwar niedriger, aber dort grassiert die gefährliche südafrikanische Mutante und droht nach Deutschland überzuspringen.
Sollten wir nicht alles versuchen, um diese Entwicklung wenigsten zu verlangsamen, bis mehr Menschen geimpft sind? Die Bundesrepublik handelt nicht gegen den europäischen Geist, es geht schlicht um eine gut begründete Notmaßnahme in Zeiten der größten weltweiten Krise seit Jahrzehnten.
Das Dumme ist: Beide Positionen, die für die offene Grenze und die dagegen, haben etwas für sich. So etwas nennt man ein Dilemma. Unternimmt man nichts, ist es falsch. Tut man etwas, ist es auch nicht richtig. Ehrlich gesagt: Ich weiß auch nicht, was der bessere Weg ist, nur, dass beide schlimm sind.
Allerdings lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie es überhaupt zu diesem Dilemma kommen konnte und ob es nicht Wege und Möglichkeiten gibt, um künftig aus einer solchen Zwickmühle herauszufinden, bevor diese überhaupt eingetroffen ist.
Die Europäische Union ist ein seltsames Wesen. Für Grenzen, Waren- und Personenverkehr, Zölle und Handelsverträge fühlt sie sich zuständig. Für Gesundheitspolitik eher weniger, es sei denn, es handelt sich um Warnhinweise auf Zigarettenpäckchen. Deshalb verfolgt in der Pandemie jedes Land seine eigenen Vorstellungen.
In Tschechien zum Beispiel erklärte ein Premier im letzten Sommer die Coronakrise für beendet und lud zur großen Sause ein. In Deutschland sind derzeit fast alle Geschäfte geschlossen, in Österreich nicht. In Frankreich werden Ausgangssperren verhängt, während kurz zuvor in Belgien noch Volksfeste veranstaltet werden durften. Jeder macht, was er für richtig hält, auch wenn es bisweilen grundfalsch ist. Aber das liegt bekanntlich im Wesen des Nationalstaats.
Transnationale Institutionen stärken
Wenn also im tschechischen Cheb besonders viele Menschen an Covid-19 erkranken, dann liegt das offensichtlich an der Politik in Prag, und nicht an der aus Brüssel. Die gibt es nämlich gar nicht. Wenn es aber eine solche europäische Gesundheitspolitik gäbe, könnte man sich auf gemeinsame Grenz- und Warnwerte sowie koordinierte Schritte gegen eine Ausbreitung der Pandemie einigen, unabhängig von den Binnengrenzen.
Damit ist nicht gesagt, dass dann alles besser würde, denn selbstverständlich könnten sich die EU-Gesundheitspolitiker auch auf falsche oder ungenügende Maßnahmen verständigen, auf den berühmten kleinsten gemeinsamen Nenner also, der in diesem Fall nicht hilfreich sein dürfte, wie aus diversen Runden bundesdeutscher Ministerpräsidenten bekannt. Aber eine Chance wäre es doch, eine Riesenchance, nicht mehr starr nach Neuseeland und Australien – ja, das sind Inseln und der Vergleich hinkt – zu schauen, sondern im Rahmen der Möglichkeiten auf unserem Kontinent gemeinsam zu handeln.
Und deshalb lautet die Lehre aus dem Dilemma an den Grenzen: Europäische transnationale Institutionen müssen gestärkt werden, damit nicht nur überall derselbe Warnhinweis auf Zigarettenpäckchen steht, sondern damit die Europäische Union gemeinsam Pandemien bekämpfen kann. Denn Viren kennen bekanntlich keine Grenzen.
Ja, das ist Wolkenkuckucksheim, unrealistisch, nicht zu machen, schon gar nicht mit diesen undemokratischen Strukturen in Brüssel. Alles richtig. Aber wie wäre es, es trotzdem zumindest einmal zu versuchen, und sei es für die nächste Pandemie?
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