Granny-Restaurant in New York: Spinatlasagne gegen den Trumpweltschmerz
Im Restaurant „Enoteca Maria“ in New York kochen Großmütter aus aller Welt Gerichte ihrer Heimat. Ein Besuch.
An einem Mittag in diesem viel zu warmen Herbst erzittert der Aluminiumrumpf meiner Fähre im Hafen von Manhattan und schießt hinaus auf den Hudson River. Versonnen starre ich aus dem Fenster und lächle die Freiheitsstatue an. Sie winkt mir aus der Ferne zu.
Nur wenige hundert Meter von hier gingen vor fast genau einem Jahrhundert die sizilianischen Großeltern von Joe Scaravella an Land. Ein junges Paar, sie Näherin, er Barbier. Wie Millionen Immigranten vor und nach ihnen trugen sie den American Dream im Herzen.
Wegen Scaravella sitze ich heute auf dieser Fähre. Ihm gehört die „Enoteca Maria“, ein kleines und nach außen hin unscheinbares Lokal im Stadtteil Staten Island, 25 Bootsminuten von Manhattan entfernt. Dreißig Großmütter – Nonnas, wie sie hier nur heißen – aus der ganzen Welt kochen in der Enoteca ihre Familiengerichte im Wechsel, jeweils einmal im Monat. Sie stammen aus Usbekistan, Palästina und Trinidad, sind in der Ukraine, Japan, Pakistan und Italien geboren.
Die Enoteca ist der fleischgewordene Melting Pot und eine Erinnerung daran, dass Großartigkeiten selbst in den USA von 2024 noch einen Platz haben. Ich habe mir vorgenommen, hier die Wiederwahl von Donald Trump und den sich immer lauter ankündigenden Untergang der Demokratie für ein paar Augenblicke zu vergessen. Das Weltbangen aussperren und mir einen Bissen großmütterlichen Focaccia-Trost abholen.
Joe Scaravella, 69 Jahre alt, ist ein freundlich dreinschauender Mann mit weißen Locken und winzigen halbmondförmigen Brillengläsern. Er steht hinter dem Tresen und kritzelt ununterbrochen neue Reservierungen in sein Notizbuch. Hinter ihm kleben an der Wand Geldscheine aus den Herkunftsländern der Nonnas, und überall verteilt stehen Superhelden-Actionfiguren herum; Iron Man, Hulk, der Joker, Superwoman mit roten Stiefeln und blonden Haaren, es sieht fast so aus wie in einem Kinderzimmer. Unweit von Spiderman hängt an der Wand auch ein gerahmtes Foto von Joe Scaravellas Nonna Domenica, seiner Mutter Maria und seiner Schwester.
Als Scaravella innerhalb kürzester Zeit seine Großeltern, seine Eltern und seine Schwester verlor, fiel er in eine Depression. 2007 eröffnete er die Enoteca. Sie ist das Resultat dieser Trauerphase. Er sehnte sich nach den Gerichten aus seiner Kindheit, die er sein Leben lang als selbstverständlich empfunden hatte. Scaravella erinnerte sich an die frischen Zutaten, die er mit seiner Nonna auf dem italienischen Markt in Manhattan auswählte, für Hühnersuppe, die cappuzelle, den Lammkopf und den Ochsenschwanz – früher Armenküche, für die man sich nicht selten schämte. Heute gilt Ochsenschwanz als Delikatesse und kostet genau so viel wie ein Steak, neun Dollar das Pfund, sagt er.
Nach dem Tod seiner Liebsten schaltete Joe Scaravella in der Zeitung America Oggi eine Art Kontaktanzeige an italienische Nonnas: „Sie würden gerne öfter aus dem Haus gehen? Der Welt zeigen, was Sie können? Ihre traditionellen Gerichte teilen?“ Für das Casting des kulinarischen Matriarchats tauchten wochenlang Nonnas mit ihren Ehemännern, Kindern und Enkeln in Scaravellas Haus in Brooklyn auf, um ihn zu bekochen. „Es war ein Karneval, wie in einem Fellini-Film!“ Der Grundstein war gelegt.
Später kamen dann Nonnas aus der ganzen Welt hinzu. Mindestalter 50 Jahre, Enkelkinder müssen sie keine haben – das wäre diskriminierend, hat Scaravella beschlossen. Vor Kurzem kaufte Netflix die Rechte an der Verfilmung seines Lebens. Wer in der Enoteca Maria essen will, muss Wochen im Voraus reservieren.
Heute steht Nonna Claudia Gutiérrez aus Mexiko in der schmalen Küche. Vom Restaurantbereich trennt sie nur eine Glaswand. Zu ihrer rechten Seite schnippelt ein fleißiger älterer Küchenhelfer aus Pakistan grüne Tomaten für die Salsa. Scaravella beobachtet ihn aus den Augenwinkeln. „Erst heute Morgen gab es Stress. Claudia macht bei seinen Launen nicht mit.“ Er stamme aus einer Machokultur und weigere sich, die Köchinnen als Autorität zu akzeptieren, sagt Scaravella über seinen Angestellten, lobt dann aber dessen Loyalität.
Nonna Claudia, 53, ist mit ihren glatten Wangen und Glitzerohrringen eine der jüngsten Nonnas des Lokals. Ihre zwei Enkelkinder leben bei den Kindern in Mexiko, auf ihrem Handy hält sie stolz das Ultraschallbild des dritten entgegen.
Dann legt sie Bananenblätter im Fleischtopf aus, brät parallel Reiskörner in Olivenöl an, rührt in ihrer dunkelroten Sopa Azteca. „Tortilla, tomate rojo, chile guajillo, chile padilla, cebolla, ajo, caldo“, diktiert sie mit konzentriertem Blick die Grundzutaten auf Spanisch.
Claudia Gutiérrez kam vor einem Jahr aus ihrer Heimatstadt Guadalajara nach Staten Island und arbeitet erst seit zwei Monaten bei den Nonnas. Wenn sie nicht hier kocht, putzt sie in einem anderen Restaurant, jeden Tag zehn Stunden. Sie spricht erst ein paar Brocken Englisch, ich nur ein paar Brocken Spanisch. Wir unterhalten uns per Übersetzungs-App. „Die Enoteca Maria ist das Beste, was mir in diesem Land passiert ist“, sagt sie und lacht ein lautes herzliches Kamala-Harris-Lachen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Zwanzig Jahre lang betrieb Gutiérrez zusammen mit ihrer Mutter in Guadalajara ein kleines Lokal. Mit jedem Jahr verschlimmerten sich die Bandenkriminalität und der Drogenhandel, ihr Geschäft lief immer schlechter. Vor drei Jahren starb die Mutter. Claudia Gutiérrez schloss das Restaurant.
Mit ihren Ellenbogen fährt sie durch die Luft, zuerst rechts, dann links, sie imitiert Kriechbewegungen: So robbte sie vor einem Jahr unter dem Grenzzaun durch, nachdem sie Schmugglern 5.000 Dollar bezahlt hatte. Sie alleine und vier Männer, von denen ein oder zwei nachts plötzlich anfingen, sie zu begrabschen. Ein anderer kam ihr schließlich zu Hilfe.
„Der amerikanische Traum existiert nicht“, sagt sie. Ihr Gehalt vom Putzen reiche nicht einmal aus, um ihren Kindern etwas Geld nach Mexiko zu schicken. Wie zur Beruhigung rührt sie in ihrer dampfenden Sopa und klagt über das Leben in Amerika, die Mietpreise, die Missgunst unter den Mexikaner:innen hier. Dann hält sie mir einen Löffel entgegen, ich soll probieren. Die Suppe schmeckt köstlich und raffiniert. Die Schärfe der Chilis in der heißen Tomatenmasse wird durch Limette und Avocado perfekt kontrastiert. Wenn es eine Wahrheit im Leben gibt, dann diese: Ich möchte fortan nur noch Sopa Azteca essen.
„Trump?“ Gut sei er für die Wirtschaft, glaubt Claudia Gutiérrez. Sorgen um ihren Asylantrag mache sie sich keine, der sei ja schon in Bearbeitung.
Eigentlich wollte ich mich ja von den großen weltpolitischen Themen fernhalten heute, das erübrigt sich im Gespräch mit Gutiérrez. Aber so ist es mir viel lieber, das verstehe ich jetzt. Die Enoteca Maria ist zwar ein Konzept. Aber eben auch ein echter Ort mit echten Menschen und ihren Geschichten.
Auf der Speisekarte stehen heute Nonna Claudias Gerichte sowie ein festes italienisches Menü. Alle Reservierungen sind auf Punkt halb drei am Nachmittag gelegt, allmählich füllen sich die dreißig Sitze im Restaurant, die Kellner:innen hetzen schon hin und her. Die Atmosphäre ist freundlich und familiär. Da ist der Finanzier aus Manhattan, der an seinem Urlaubstag eine kulinarische Tour unternimmt. Die drei Schwestern aus Oberösterreich, das indische Paar aus Kalifornien. Alle haben sie die Nonnas auf Social Media entdeckt, sagen sie.
Als Vorspeise gibt es für alle Olivenfocaccia mit eingelegtem Gemüse. Ich sitze an der Bar und bestelle eine große Portion Sopa Azteca und einen Pinot Grigio. Als Hauptgang eine Spinatlasagne, die wahrscheinlich nicht den Ernährungsprinzipien von Heidi Klum entspricht. Ich schiebe mir Lasagnestückchen in den Mund und bin so glücklich, wie ein Mensch es zwei Wochen nach dieser Präsidentschaftswahl nur sein kann.
Vor dem Restaurant hält ein Bus der städtischen Verkehrsgesellschaft. Eine kleine Frau steigt aus, tritt mit sicherem Schritt auf den Bürgersteig und öffnet die Tür zur Enoteca. Das Personal eilt wie im Gänsemarsch herbei, um sie zu umarmen und ihr einen Kuss auf die runzelige Wange zu drücken, auch Joe Scaravella ist dabei.
Maria Gialanella, 90 Jahre alt, ist im Städtchen Avellino in der Nähe von Neapel geboren und kam wie Scaravellas Großmutter mit Anfang 20 als Näherin nach New York. Früher war eine Deutsche die älteste Köchin der Enoteca, dann wurde sie zu schwach. Heute ist es Nonna Maria. Sie hat makellos lackierte pinke Fingernägel, trägt pinken Lippenstift und spricht auch nach all den Jahren noch gebrochenes Englisch.
Maria Gialanella kocht hier seit zwölf Jahren die Gerichte ihrer Region, die sie noch von ihrer Großmutter gelernt hat. Eingelegte Zucchini zum Beispiel, und auch meine Spinatlasagne hat sie gezaubert. Wie Claudia Gutiérrez liebt auch sie ihren Job, „because everyone here loves me and my food“.
Das Restaurant ist nun, um kurz nach vier, wieder fast leer. Zum Schichtwechsel setzen Nonna Maria und Nonna Claudia sich an den Tisch. Sie kichern, gestikulieren, sprechen einen wilden Mischmasch aus Italienisch und Spanisch und essen Linguine. Schon sie zu beobachten tröstet über die Welt da draußen ein wenig hinweg.
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