Gospelmusik von Staples Jr. Singers: Spirituelle Kohle von oben
„When Do We Get Paid“, das sagenumwobene Album der Gospelband ist nun erhältlich. Geschichte einer Schatzsuche.
Als Greg Belson, selbsternannter „Vinyl-Archäologe“, Yale Evelev vom New Yorker Label Luaka Bop für eine geplante Gospel-Soul-Compilation die Single „We Got a Race to Run“ zu hören gab, war Evelev sofort von der Musik überwältigt: Roh, energisch und mit einer Message klang der Song. Unorthodox zwischen Blues, Gospel und Funk changierend. Nur, wer war diese Band, die diesen upliftenden Song in den 1970ern irgendwo in Mississippi, tief im US-Süden aufgenommen hatte? Wer waren diese Staples Jr. Singers?
Evelev fing an, nach der Gruppe zu forschen und stieß auf ihr einziges Album von 1975: „When Do We Get Paid“. Dann fasste er einen Entschluss: Ihre Musik muss wieder zugänglich gemacht werden. Und dafür wollte er diese scheinbar in Vergessenheit geratene Band aus der Kleinstadt Aberdeen in Mississippi unbedingt ausfindig machen.
„Yale rief jede Annie Brown – so hieß die Leadsängerin der Gruppe – im regionalen Telefonbuch an, deren Nummer er finden konnte. Bis er schließlich eine Frau sprach, die sagte: Du suchst nicht nach Annie Brown, du suchst nach Annie Caldwell! Annie hatte geheiratet und den Namen ihres Mannes angenommen.“ Dann führte Evelev ein denkwürdiges Telefonat mit Annie Caldwell.
„Ich habe zwei Jahre nach Ihnen gesucht“
Er begann mit diesem Satz: „Ich habe zwei Jahre nach Ihnen gesucht“, erzählt Eliza Grace Martin von Luaka Bop, die heute mit den Staples Jr. Singers zusammenarbeitet. Es stellte sich zwar heraus, dass die Band nicht mehr aktiv war. Doch: Die drei Gründungsmitglieder, die Geschwister Annie Caldwell, R. C. und Edward Brown erfreuten sich des Lebens. Noch schöner: Sie haben auch nie aufgehört, Musik zu machen.
Staple Jr. Singers: „When Do We Get Paid“ (Luaka Bop/Studio!K7)
Von ihrem Album „When Do We Get Paid“ besitzen sie noch genau ein Exemplar: Zerfleddert und zerkratzt, da immer und immer wieder abgespielt von der ganzen Familie. Vor langer Zeit hatten sie eine geringe Stückzahl Platten gepresst und aus dem Vorgarten heraus an ihre Nachbarn verkauft. „Wir dachten, über die Sache wäre längst Gras gewachsen“, befürchtete Annie.
Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in West Point, wenige Meilen von ihren Brüdern R. C. und Edward, die aus Aberdeen zugeschaltet sind. Noch heute leben die beiden im selben Viertel, in dem sie auch aufgewachsen sind. Alle drei haben sie ein geregeltes bürgerliches Leben geführt: R. C. und Edward – mittlerweile in Rente – arbeiteten in verschiedenen Fabrikjobs. Annie nähte in einer Kleiderfabrik, inzwischen führt sie eine eigene Boutique. Sie sprechen mit starkem Südstaaten-Akzent.
Moderne Lokalhelden
Landesweit berühmt geworden sind die Staples Jr. Singers damals nicht, rund um Aberdeen erlangten sie jedoch den Status von Lokalhelden. Einerseits waren die Staples Jr. Singers eine typische Familienband, die Gospel und Soul spielte, wie es das in den 1970ern in schwarzen Communitys im Süden öfter gab, andererseits waren sie für ihre Zeit außergewöhnlich modern, findet Martin: „Es geht nicht nur um Gott im traditionellen religiösen Sinne, sondern vielmehr um Zusammenhalt. Viele Gospelgruppen experimentierten zu dieser Zeit mit R&B und Soulmusik“, erzählt Martin.
„Unsere Musik war besonders innovativ, wir haben sie mit universellen Botschaften versehen, die nichts mit den traditionellen Gospel-Liedern zu tun hatten.“ Und somit passen Staples Jr. Singers perfekt in das progressive Konzept von Luaka Bop, dem Label, das David Byrne, ehemals Sänger und Gitarrist der Talking Heads, eigens gegründet hatte. Luaka Bop ist dafür bekannt, unbekannte und in Vergessenheit geratene Musik aus aller Welt (wieder) zu veröffentlichen. Als R. C., Annie und Edward anfingen, zusammen zu performen, waren sie gerade Teenager auf der Highschool.
Annie übernahm mit Edward den Gesang, R. C. spielte Gitarre. Nach und nach schlossen sich ihnen auch ihre jüngeren Geschwister an. Ein Foto gibt es noch von den damaligen Staples Jr. Singers: es zeigt sechs Teenager – die Mädchen in schicken Kleidern, die Jungs in dunklen Anzügen. Neben den drei Gründungsmitgliedern sind Ronnie (Bass), Cleveland (Backup-Gesang) und Annice Brown (Gesang) dabei.
Autodidakten spielen Musik
Singen und Spielen haben sie sich selbst beigebracht, erzählen die Geschwister. Beeinflusst durch ihre Namensvetter, die „Staple Singers“, ebenfalls eine US-Gospel-Blues-Familienband. „Ich saß im Wohnzimmer meiner Mutter und hörte den Bands zu, die wir liebten, genoss das Zeug richtig. Da wollte ich Sänger werden“, erzählt Edward. Sein Vater kaufte R. C. eine Gitarre, da war dieser gerade erst zehn geworden. Er könne wirklich alles spielen, meint sein Bruder. „Wir hörten uns den Sound von anderen Liedern an. Er nahm die Gitarre in die Hand, begann zu spielen und wir fingen einfach an zu singen.“
In der Öffentlichkeit waren es zunächst Annie und R. C., die in der Schule für ihre Klassenkamerad:Innen sangen. Dann kam Edward, der Älteste, dazu. Zunächst spielten sie in der Nachbarschaft. Bald darauf traten sie in Kirchen, bei Schul-Talentshows und in Gospelgottesdiensten in der ganzen Region auf. Alle seien begeistert gewesen von der Musik der Teenager, die „wirklich“ performen konnten, meint Martin.
Dann tourt die Gruppe durch den „Bible Belt“, der Region in den Südstaaten, die kulturell vor allem durch den evangelikalen Protestantismus geprägt ist. Die Familie fühlt sich der Pfingstbewegung zugehörig – einer christlichen Erweckungsbewegung, in deren Mittelpunkt spirituelle Erfahrungen mit dem Heiligen Geist stehen. Viele Kirchen, in denen sie damals aufgetreten waren, sind unorthodoxe Gotteshäuser, sogenannte Storefront-Churches: leerstehende Läden, die zu gottesdienstlichen Zwecken umfunktioniert wurden.
„Von Gott gewollt, dass ich singe.“
Fragt man Annie, wie sie gelernt hat zu singen, erzählt sie, dass es auf wundersame Weise von Gott gewollt gewesen sei. „Wir sind in der Kirche aufgewachsen: Meine Mutter war Predigerin, mein Vater Diakon. Wir haben schon in jungen Jahren angefangen, beim Gottesdienst zu musizieren“, sagt sie. „Die Songs kommen mitten aus unserem Leben.“ Und sie sind für sie auch immer eine Kommunikation mit Gott.
Im entspannt-melancholischen Song „When Do We Get Paid“, der ihrem Album den Titel gab, ist eine Anspielung an „When Will We Be Paid“ von den Staple Singers. Edward stellt sich mit prägnanter Stimme genau diese Frage: „Wann werden wir endlich bezahlt, für die Arbeit, die wir getan haben?“ Seine Antwort: „Ich mache mir darüber keine Sorgen, ich weiß, dass der Herr mich eines Tages dafür belohnen wird.“
Im Hintergrund das bluesige, solide Gitarrenspiel von R. C. und der volle Backgroundgesang von Annie. Trotz melancholischen Anklängen wirkt es leicht und zuversichtlich, weil der Glaube spielend durch die Musik und die Lyrics hindurchdringt. Im Nachhinein – 40 Jahre später – klingt es fast schon prophetisch, auch wenn es den Staples Jr. Singers bei der anstehenden Bezahlung nicht direkt um eine irdische geht.
Kaum Aufzeichnungen über schwarze Kultur
Auch die Geschichte der schwarzen Community fließt in die Songs mit ein. Die Stadt Aberdeen, Hafenstadt am Tombigbee River und Eisenbahnknotenpunkt, ist geprägt von der Baumwollindustrie, Rassismus spielt bis heute im Alltag eine Rolle. Fast drei Viertel der Bevölkerung sind schwarz. Dennoch: „Es gibt kaum Aufzeichnungen über die Geschichte der schwarzen Kultur in Aberdeen“, sagt Martin. „Der Historiker im Stadtarchiv hatte noch nie etwas von den Staples Jr. Singers gehört.
Die schwarzen Communitys, in denen Annie, R. C. und Edward bekannt waren, wurden von der weißen Gemeinschaft nicht anerkannt.“ Zwar besuchten alle Geschwister eine integrierte Schule, doch ihre Konzerte waren geprägt von der Segregation. „Wollten wir in einem Restaurant spielen, durften wir oft nicht hinein, wenn doch, mussten wir ins Hinterzimmer. Davon haben wir uns nie beirren lassen und einfach weitergemacht“, sagt Edward.
Über 40 Jahre ist die Musik des Albums nun alt. Während dieser Zeitspanne hat sich die Welt um die Staples Jr. Singers grundlegend gewandelt: persönlich, weltpolitisch, musikalisch, gesellschaftlich. Die Songs, die die Staples Jr. Singers im Teenageralter komponiert haben, stoßen aber auch heute auf Resonanz. Im Mai trat die Gruppe zum ersten Mal wieder gemeinsam auf, im Herzen des weltlichen New York.
Eines der vier Konzerte fand mitten auf der Straße statt. Verzückte Autofahrer:innen hielten auf der Straße an, um zuzuhören, blockierten den Verkehr, erzählt Martin. „Ihnen beim Spielen zuzusehen, ist beeindruckend. Man hat das Gefühl, dass sie damals zu ihrem zukünftigen Ich sprachen. Sie wissen so viel mehr über die Welt, das Leben und seine Härten“, sagt sie. Nun sind weitere Konzerte in Planung. Eventuell sogar eine Europa-Tournee. „Diese Musik ist so roh, energiegeladen und gefühlvoll, da hoffen wir einfach, dass sie überall Leute bewegt.“
Und die „Singers“ selbst? Sie glauben an ihre Musik. Aber was karrieremäßig auch kommen mag, in einem Thema sind sie sich einig: „Gott ist immer noch derselbe Gott wie früher, unsere Lieder haben deswegen dieselbe Bedeutung und sie fühlen sich genauso an wie damals für uns.“
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