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Gold der Ostsee Da, es glitzert im Tanggewöll: Die Rügenerin Tina Pellegrin ist im BernsteinfieberEin Stück Unsterblichkeit

Tina Pellegrin zieht mit dem Kescher angeschwemmten Tang an Land, in dem sie hofft, Bernstein zu finden Foto: Luciana Ferrando

aus Rügen Luciana Ferrando

Es ist früh morgens, es dämmert, ist kalt. Man hört das Meer, den Wind und Schritte auf nassem Sand. Mit Infrarot-Taschenlampen durchscannen drei Leute den Seetang: Tina Pellegrin, die Bernsteinfischerin aus Rügen, ihre Mutter Yvonne, ihr Stiefvater Finbarr Corrigan. Sie gehen morgens los, wenn der Binzer Strand leer ist und Meer und Küste nur ihnen gehören. Falls etwas im Licht der Taschenlampen glänzt, haben sie Glück. Nur, was am Strand liegt, reicht nicht, sie müssen ins Wasser, um Bernstein zu fischen.

„Meine Füße sind meine Augen“, sagt Tina Pellegrin, sie steht bis zur Hüfte im Meer, ihre Füße tasten durch die Gummistiefel nach dem Tang. Wird sie fündig, lädt sie den Kescher voll. 30, 40 Kilo Seetang hebt sie damit hoch, bringt ihn zum Strand, fängt an zu wühlen. „Wie ein Drogenrausch“, sagt sie. „Ich weiß, wenn etwas da ist, mein Kopf summt: Nimm mich mit, als sagten es mir die Steine.“ Es ist „Goldfieber, Bernsteinfieber“, Gier und kindliche Freude.

Ihr Auge sei „bernsteintrainiert“, sagt sie. „An mir geht kein Stein vorbei.“ Da, es glitzert im Tanggewöll, einige Stückchen, stecknadelkopfgroß, dann zwei größere Stücke mit hellbrauner Kruste. Die Bernsteinfarbe wird erst später zu sehen sein, nach dem Polieren. „Wenn man was findet, kann man nicht mehr aufhören.“ Sie geht zurück ins Wasser, holt mehr Tang, sie kann nicht riskieren, dass das Meer ihr den Bernstein nimmt.

Wenn während des Kescherns größere Stücke auftauchen, steckt sie die in ihre Latzhose oder zur Not in den Mund. „Mein Papa hat schon Bernstein geschluckt.“ Sie meint Finbarr Corrigan.

„Fünf Stunden hält man es aus. Nach drei Stunden bist du kaputt, aber du ziehst es durch.“ Sie trainiert jeden Tag: „Man muss fit sein, stark.“ Sie wärmt sich auf wie vor einem Wettkampf. Das Wasser ist kalt, die Hände frieren, der Wind weht.

Schlechtes Wetter ist Bernsteinwetter. Ein tagelanger Nord­oststurm, erst Windstärke 8–9, dann abflauend auf Windstärke 4–5 sei perfekt am Stand von Binz. Pellegrin betont „Binz“, denn die meteorologische Voraussetzungen seien nicht überall die gleichen. „Wenn sich der Sturm beginnt zu legen, brechen wir auf.“

Später packt sie die nassen Arbeitskleider in den Kofferraum, fährt zum Werkstattladen in einer Kopfsteinpflasterstraße im Zentrum von Binz. Es ist Hochsaison, aus aller Welt kommen Touristinnen, fragen nach dem „Gold der Ostsee“.

Irene, die Uroma von Tina

Im Laden sitzt Tinas Mutter. Yvonne Pellegrin-Corrigan, sie trinkt Kaffee, zeigt ein Fami­lien­album. Auf einem Bild ein Leuchtturm und ein Haus auf der Greifswalder Oie, einer 54 Hektar großen Insel, drei Segelstunden von Rügen. Zu DDR-Zeiten wird Yvonnes Vater dort zum Dienst hingeschickt. Dessen Eltern ziehen mit. Yvonnes Oma, übernimmt die Stelle als Leuchtturmwärterin, sie ist die Letzte ihrer Art auf Rügen, nach der Wende werden die Leuchttürme von Peenemünde aus gesteuert. Yvonnes Großmutter kam mit sechs Jahren aus Norditalien nach Deutschland, arbeitete später in einem Stahlwerk und als Wärterin in einem Gefängnislager. „Uromi schmuggelte Zigaretten und Brot für die Russen“, sagt Tina. „Das wusste ich nicht“, sagt Yvonne.

Uromi ist 97 und wohnt auf Rügen. Bis vor einem Jahr rauchte sie eine Packung Zigaretten am Tag, bis heute kegelt sie. Doch sie sei vergesslich und durcheinander geworden.

Yvonne denkt gern an ihre Kindheit auf der Insel. „Man hat uns beneidet. Wer hatte schon als Kind eine Insel für sich?“ Bis heute hat sie den modrigen Geruch des Treppenhauses im Leuchtturm in der Nase. Auch erinnert sie sich, wie die Oma sie an die Prismakugel setzte und dann den Mechanismus drehte. Zweimal am Tag musste die Oma die Vorhänge des Leuchtturms bewegen, damit die Kabel nicht schmolzen, sonst hatte die Oma viel Zeit und machte lange Wanderungen am Ufer. Dabei entdeckte sie Bernsteine. „Sie hatte ein Monopol, dort war keine Konkurrenz.“ Die Oma zeigte Yvonne, wie das mit der Bernsteinsuche geht. Später zeigte Yvonne es Tina .

Als Yvonnes Großeltern wieder aufs Festland zogen, sagte ihr Opa auf dem Schiff: „Dreh dich um, die Insel wirst du nie wiedersehen.“ Yvonne musste weinen. Jahre später, als die Greifswalder Oie längst ein Naturschutzgebiet war, bekam sie doch eine Sondergenehmigung, um die Insel wiederzusehen.

Finbarr Corrigan wiederum hatte Yvonne dann auf Hiddensee kennen gelernt, er verknallte sich zuallererst in ihre Beine. Als einer von 17 Geschwistern suchte er als junger Mann einen Weg aus der Armut, kam nach Deutschland, arbeitete als Trockenbauer, Türsteher, hatte einen Klub, ein Restaurant. Als er vor dem Burn-out stand, ging er nach Hiddensee. Als Hafenmeister entdeckte er ein neues Hobby: Bernstein. Da traf er Yvonne. 2007 eröffneten sie in Binz eine Werkstatt mit Laden. Mit charmantem „hello, darling“ grüßt er die Kundinnen.

Yvonne, Tinas Mutter

Und Tina, Yvonnes Tochter, die Fachabitur in Berlin gemacht hatte, danach aber keinen Job fand? „Komm und arbeite mit uns“, sagte die Mutter. „Okay“, antwortete die Tochter, da war sie 21. Bei der Mutter hatte sie gelernt, den Bernstein zu finden. „Guck ganz genau hin, Tina, ganz genau. Guck noch mal“, das war die Schule der Mutter. Bei Finbarr Corrigan, dem Stiefvater, lernte sie, wie man die Steine bearbeitet. „Zwei Jahre dauerte es, bis Fin mir erlaubte, den Bohrer zu benutzen. Bis dahin musste ich alles per Hand machen.“ Bernstein sei sehr empfindlich, geht schnell kaputt, kriegt Risse.

Die Arbeit, meint Tina Pellegrin, war schön, aber Binz für Jugendliche langweilig. Als dem letzten Club in Binz die Schließung drohte, startete sie eine Petition, gründete mit Freunden einen Jugendbeirat, um etwas „gegen die Abwanderung junger Menschen“ zu tun. Es klappte nicht richtig. „Der Seniorenbeirat funktioniert“, sagt sie. Das finde sie okay. Und doch könne sie manchmal keine Rollatoren mehr sehen. Da betritt eine Gruppe älterer KundInnen den Laden. „Kann ich helfen?“ fragt sie. Manche wollen „Schönes“, andere „Exklusives“. Tina Pellegrin denkt, dass die Bernsteinfaszination mit der Idee von Unsterblichkeit zu tun hat. Man kauft Millionen Jahre alte Steine, als könne man ein Stück Unsterblichkeit kaufen.

„Etwas Schönes“ kann ein Stückchen roher Bernstein für 1,90 Euro oder für ein halbes Kilo Bernstein für 30.000 Euro sein. Dazwischen honigfarbene Ketten für 400, Anhänger, in deren Bernstein ein Insekt eingeschlossen ist für 50 Euro.

Bernsteinfischerei, ­Werkstatt, Verkauf, alles machen die Pellegrin-Corrigans zusammen. Bei Bernsteinwetter fängt der Tag früh an, wenn sie gegen fünf Uhr ans Meer gehen. Fin und Tina sind mit einem Seil im Wasser verbunden, Yvonne sucht am Strand Bernstein in den Tanghaufen, gießt Tee in Whisky zum Aufwärmen. Dann frühstücken sie zusammen und machen den Laden auf. „Klar, kracht es manchmal“ zwischen Tina und Yvonne, Yvonne und Fin – „vor allem, wenn sie 24 Stunden miteinander verbringen“, bei Fin und Tina ganz selten. Sie teilen den gleichen Humor und haben Spaß. „Es wäre Quatsch, mit 28 von ihm adoptiert zu werden, aber ich nenne ihn Papa“, sagt sie. Ihr leiblicher Vater – „Erzeuger wäre richtiger“, ging weg, als sie klein war. „Ich habe ihn nie vermisst, meine Mutter hat beide Rollen übernommen.“

Im Laden möchte eine Touristin wissen, wie man echten von falschem Bernstein unterscheidet. Tina Pellegrin zeigt ein Glas mit Salzwasser, an der Oberfläche schwimmen die Echten, auf dem Boden liegen die Fälschungen. Dann zündet sie einen cognacfarbenen Bernstein an, es raucht und riecht ölig nach Wald. Wenn man einen Bernstein reibt, lädt er sich statisch auf. „Das, was Sie tragen, ist Kopal“, sagt Pellegrin. Kopal ist eine andere Form von Baumharz. Die Kundin will ihr nicht glauben, denn „ihr Juwelier“ verkaufte ihr den Stein. Sie erträgt solche Abwertungen von Kunden. Denn „ohne Urlauber wäre Binz tot und wir arbeitslos“, sagt Pellegrin.

So lehrt die Mutter ihre Tochter, Bernstein im Seetang zu finden: „Guck ganz genau hin, Tina, ganz genau. Guck noch mal“YVONNE PELLEGRIN-CORRIGAN

Um sich etwas Geld dazuzuverdienen und eine „schöne, aber zu teure“ Wohnung im Prora-Komplex mit ihrem Freund teilen zu können, arbeitet Pellegrin hin und wieder bei gastronomischen Veranstaltungen, die manchmal bis zwei Uhr nachts dauern.

Aboodi, Tinas Freund

In Prora wohnte Aboodi, wie alle Pellegrins Freund nennen, schon seit Herbst 2015, als er nach Deutschland kam. Damals wurde eine Notunterkunft für Flüchtlinge in der Jugendherberge eingerichtet. Aus der syrischen Stadt Damaskus war der junge Mann geflohen.

Als Pellegrin hörte, es würden Freiwillige gesucht, um in der Notunterkunft zu helfen, sei sie sofort dabei gewesen. „Als Humanistin habe ich mich gefreut, dass es endlich auf Rügen etwas zu tun gibt“, sagt sie. Sie war erstaunt, wie viele Binzer helfen wollten, doch fast alle wären nur an Kindern und Familien interessiert gewesen. Deshalb half die Bernsteinfischerin den jungen Männern, „vor denen die meisten Angst hatten“.

Eines Tages versteinerte ein neuer Bewohner, als sie an die Tür seines Zimmers klopfte, um ihm frische Handtücher zu geben. Er sprach kein Englisch und auf die arabischen Wörter, die Pellegrin in Berlin gelernt hatte – „Marhaba“, guten Tag. „Kif Halak?“, Wie geht’s? – reagierte er nicht. Zwei Monate lang sah sie ihn nicht mehr. Er hatte sich eingesperrt, um Deutsch zu lernen, um mit ihr reden zu können. Als sie ihn wieder sah, knisterte es: „Von drei Metern konnte ich sehen, wie sein Herz raste, wenn ich da war, und er hat Deutsch für mich gelernt. Noch nie im Leben ist mir so was passiert. „Du ganz rot in Gesicht“, sagte er, als sie zu zweit spazieren gingen. „Das stimmte, bei mir funkte es auch“, sagt Pellegrin.

Während Pellegrin auf Bernsteinsuche geht, macht Aboodi den Führerschein, arbeitet in einem Restaurant, macht eine Ausbildung als Restaurantfachmann. Pellegrins Zeiten als Freiwillige sind vorbei: Die meisten Geflüchteten wurden in andere Bundesländer verteilt, und die Notunterkunft gibt es nicht mehr. Trotzdem müsse sie weiter „Aufklärungsarbeit“ leisten.

„Warum kommen so viele Single-Männer?“, fragen machen und meinen: „Sie respektieren doch keine Frau“; „Sie geben dir nicht einmal die Hand.“ Gegen solche Vorurteile versuche sie immer noch, mit Argumenten zu kontern. Sie regt sich auf, wenn sie davon erzählt. „Wir Deutschen stehen auf, machen die Kaffeemaschine an, sitzen vor dem Fernseher. Und unsere Ängste? Die kreisen darum, pleite zu gehen, die Krankenversicherung zu verlieren. Wir wissen nichts von Leid und Not!“, sagt sie, als sie rauchend vor dem Laden steht.

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