Glucken-App „Ignore no more“: Da hilft nur totstellen
Eine App soll die Kinder zwingen, ihre Eltern zurückzurufen. Das ist die fieseste Entwürdigungsmethode seit Kinderleine und Antimasturbationsfessel.
Das Problem ist so alt wie die Menschheit. Eine Frau wird schwanger und möchte aus körperlichen oder seelischen Gründen nicht abtreiben. Ein Kind wird geboren, lernt laufen, sprechen, telefonieren. Das nutzt es ausgiebig, zunehmend in der Pubertät und Adoleszenz. Es verabredet sich zu kriminellen Handlungen und verschickt Nacktfotos an soziale Netzwerke. Nur eines tut es nicht: sich bei seiner Mutter melden, die aus rein sentimentalen Motiven nicht loslassen möchte. Es ruft auch nicht zurück. Es geht erst gar nicht ans Telefon.
Beim Autor war es nicht anders. Man schreibt ja „der Autor“. Nicht „ich“. „Ich“ klingt doof in einer Zeitung, die Allgemeinwertigkeit zumindest vortäuschen möchte, wo im Grunde nur neurotische Selbstdarsteller ihre persönlichen Traumata per Schreibtherapie verarbeiten.
Der Autor also war in den 80er Jahren weit weg von „zu Hause“, um dem schmutzigen Nest aus Enge, Demütigung und schlechten Erinnerungen hier einen neutralen Arbeitsbegriff zu verpassen, in eine kalte Weddinger Wohnung geflüchtet. In der Mitte des einzigen Zimmers stand ein Telefon mit Wählscheibe und schwieg. Die Rechnung war nicht bezahlt, es war nicht möglich, sich „zu Hause“ zu melden.
Zunächst konnte „die“, wie der Autor seine Mutter nannte, noch bei ihm anrufen, dann ging auch das nicht mehr. Eine Zeit der wunderbaren Ruhe begann. Bis eines Tages ein Zettel an der Wohnungstür des Autors hing, mit der dringenden Bitte, er möge sich doch „zu Hause“ melden. Den Wisch hatte ein Kiez-Cop angebracht, der über den Fußballverein, in dem der Autor spielte, alarmiert worden war. Analoger wären nur Gebrüll oder Rauchzeichen. Der Autor meldete sich schließlich, als er die Groschen für die Telefonzelle beisammen hatte.
Herrliche Zeiten. Heute haben es die nestflüchtigen Jungen schwerer. Im Zeitalter des Smartphones können die Eltern praktisch jederzeit den Zugriff auf die Brut ausüben. Da hilft zum Selbstschutz nur, sich totzustellen.
Elterngeneration mit Technikverstand
Doch leider ist mittlerweile eine Elterngeneration herangewachsen, die jung genug ist, sich auf technische Gegenrüstung zu verstehen. „Ignore No More“ (frei übersetzt: „Ruf! Mich! An!“) heißt die Android-App, die Sharon Standifird, eine Mutter aus Texas, entwickeln ließ, um ihres Sohnes Bradley habhaft zu werden, der die Anrufe seiner nervigen Alten konsequent wegdrückte. Mithilfe der App blockiert die Glucke nunmehr auf dessen Smartphone sämtliche Rufnummern außer ihrer eigenen, dazu Game- und SMS-Funktionen, bis der Knabe sie auf Knien rutschend zurückruft, um sich neben Floskeln und Ermahnungen auch noch das Passwort zum Entsperren abzuholen.
Big Mother is watching you. Seit den Experimenten mit Laufställen, Kinderleinen und Antimasturbationsfesseln war wohl keine Methode perfekter dazu angetan, den Nachwuchs zu entwürdigen. Einen Nachwuchs, der doch einfach nur in Ruhe cool sein möchte oder was er dafür hält.
Wie sieht das denn aus: Das Kind möchte seinen Mitschülern schnell mal einen krassen Porno zeigen. Geht nicht. Erst die Mutter anrufen. Das Kind will sich mit seinem Dealer verabreden. Geht nicht. Erst die Mutter anrufen. Die Plattenfirma versucht das Kind anzurufen, um ihm seinen ersten Plattenvertrag als Rapper anzubieten. Geht nicht. Die Plattenfirma versucht es nun beim Nächsten. Der seine Mutter vielleicht schon angerufen hat.
Dabei wird, wer nicht mit der Mutter sprechen möchte, seine guten Gründe haben. Diese wird Frau Standifird auch kennen, tief in ihrem Inneren.
Eines Tages wird das schon wieder besser werden. Bis dahin tut es auch ein Zettel an der Zimmertür.
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