: Gleiches Atomrisiko für alle
EU-Kommission legt Sicherheitsstandards für alle europäischen AKWs vor. Reaktoren in sieben Beitrittsländern veraltet. Großbritannien und Frankreich wehren sich gegen schärfere Bestimmungen. Europa-Grüne halten sie für viel zu lasch
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Die Schlagzeile der Pressemitteilung klingt gut: Ein „Gemeinschaftskonzept für die nukleare Sicherheit in der EU“ will die Kommission mit zwei Richtlinien schaffen, die Sicherheitsstandards für aktive und stillgelegte Atomkraftwerke und für die Lagerung von Atommüll festlegen sollen. „Die europäischen Bürger würden uns Untätigkeit auf EU-Ebene in diesen Bereichen nicht verzeihen“, sagte Energiekommissarin Loyola de Palacio gestern in Brüssel.
Die Spanierin hat sich in der Vergangenheit nicht gerade als Kernkraftskeptikerin einen Namen gemacht. Es lohnt sich, das Kleingedruckte der Richtlinienentwürfe zu lesen. Die Probleme sind in dem 100-seitigen Paket klar dargestellt: 40.000 Kubikmeter radioaktiver Müll fallen jährlich in der Europäischen Union an. Kein Land der Erde habe bislang eine dauerhafte Lösung für die Entsorgung von hochradioaktivem Müll gefunden.
Die Situation verschärft sich durch den Beitritt von zehn neuen Mitgliedsländern, von denen sieben Atomkraftwerke betreiben. Die Europäische Union verlangt, dass bis 2009 von den 22 betriebenen Reaktoren 8 abgeschaltet werden. Im Gegenzug will die Kommission die Euratom-Kredite erhöhen. Sie hat den Rat aufgefordert, die Anleihen von derzeit 4 Milliarden auf 6 Milliarden Euro hochzusetzen.
Schwammiger sind die Kapitel formuliert, die neue gemeinschaftliche Sicherheitsstandards betreffen. Die Energiekommissarin betont, dass es „zumindest widersinnig wäre, wenn die Europäische Union eine Überwachung der nuklearen Sicherheit nur in den neuen Mitgliedsstaaten und nicht in der gesamten erweiterten Union veranlassen würde“. Hier weise der Euratom-Vertrag von 1957, der keine Normen für die nukleare Sicherheit enthält, eine gravierende Lücke auf. Wie diese Normen aber aussehen sollen, lässt das dicke Papier offen. Nationale Experten sollen Vorschläge ausarbeiten, die dann der Rat absegnen muss. Angesichts der Widerstände in Großbritannien und Frankreich gegen schärfere Sicherheitsbestimmungen wird wohl nur der kleinste gemeinsame Nenner herauskommen.
Die Grünen im Europaparlament ließen denn auch gestern kein gutes Haar an dem Konzept. Der Euratom-Vertrag sei ein „Dinosaurier“, sagte der Luxemburger Energieexperte Claude Turmes. Das hastig geschnürte Nuklearpaket sei eine „leere Schachtel, ein PR-Trick von Frau Palacio“, mit dem kein einziges Kernkraftwerk sicherer gemacht werde. Die nukleare Sicherheit gehöre – wie vor einigen Tagen in Berlin von Daniel Cohn-Bendit gefordert – in den neuen Verfassungsvertrag.
Die irische Grüne Nuala Ahern warnte ihre Regierung davor, dem Paket zuzustimmen. Irland klagt zurzeit vor dem Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag auf Einsicht in Dokumente, die Aufschluss über die Verschmutzung irischer Gewässer durch radioaktive Abfälle aus der britischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield geben könnten.
Dem Kommissionsentwurf ist das Dilemma deutlich anzumerken, dass unter Zeitdruck nach Formulierungen gesucht wurde, die alle Mitgliedsländer mittragen können. Sind die osteuropäischen Länder 2004 erst einmal beigetreten, können ihnen nicht mehr Normen aufgenötigt werden, die in der alten EU nicht existieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen