Glaude über Rassismus in den USA: „Dieses Land lügt sich an“
Der Afroamerikanist Eddie Glaude bezeichnet die USA als schrecklich segregierte Gesellschaft. Es gebe eine Expansion von schwarzer Armut.
Gerade vor ein paar Wochen ist Eddie Glaudes Buch „Begin Again“ in den USA erschienen – eine Auseinandersetzung mit James Baldwin, dem Schriftsteller und Vordenker gegen Rassismus und Homophobie. Baldwins frühe Romane waren Bestseller. Als er sich politisch radikalisierte und den intellektuellen Spagat zwischen Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung und Black Power machte, gingen einige Linksliberale auf Distanz. Für junge und alte Black-Lives-Matter-Aktivist:innen ist Baldwin weiterhin ein Visionär.
taz am wochenende: Herr Glaude, wie hat sich das Leben für schwarze Intellektuelle in diesem Land seit James Baldwin verändert?
Eddie Glaude: Das muss man konkret beschreiben. Ich selbst bin ein Beispiel für den Fortschritt bis zu einem gewissen Grad. Mein Vater hätte nicht nach Princeton gehen können. Ich bin dort ein Professor mit Lehrstuhl. Aber es gibt weiterhin zwei Welten. Amerika ist eine schrecklich segregierte Gesellschaft.
Wo zeigt sich das?
Da, wo wir leben. Die Wohnungssegregation grassiert, wir leben nicht wirklich miteinander. Und das beeinflusst die Schulen. Unsere Schulen werden aus Grundsteuern finanziert. Da der Wert von schwarzen und braunen Wohnbezirken oft niedriger ist, sind dort auch die Grundsteuern niedriger. Das führt dazu, dass für die Schulen weniger Geld vorhanden ist. Viele unserer Schulen sind unterfinanziert.
Sind die Versuche zur Abschaffung der Segregation gescheitert?
Eddie S. Glaude Jr., geboren 1963 in Mississippi, ist Professor am Institut für African American Studies in Princeton. „Begin Again“ erschien bei Crown Publishing Group.
Viele politische Versuche, die systemischen Formen von Rassenungleichheit abzuschaffen, haben nicht funktioniert. Die große Rezession von 2007 und 2008 hat Afroamerikaner unverhältnismäßig stark getroffen. Viele von uns haben ihre Häuser verloren. Einen derart massiven Wohlstandverlust hat die schwarze Community seit dem 19. Jahrhundert nicht erlebt.
Zugleich gibt es mehr schwarze Intellektuelle und Politiker.
Die Abschaffung der förmlichen Strukturen von weißer Vorherrschaft im Süden hat zu einer Öffnung von Universitäten und anderen zuvor mehrheitlich weißen Institutionen im Land geführt. Und zu der Expansion einer schwarzen Mittel- und Oberschicht. Ein paar von uns haben den Zugang zum Mainstream des amerikanischen Lebens und zu den Korridoren der Macht geschafft. Aber zugleich gibt es eine Expansion von schwarzer Armut – was in den 80ern die „schwarze Unterschicht“ (Black Underclass) genannt wurde. Die Verzweiflung hat sich vertieft. Wir haben jede Menge schwarze und braune Leute, die in ressourcenschwachen Wohngegenden gefangen sind, wo die Institutionen nicht funktionieren. Da ist eine große Spaltung zwischen den Klassen.
Wo verlaufen die Trennlinien in der US-Gesellschaft?
Die echte Trennlinie in Amerikas Geschichte sind der Wertegraben und die Lügen, die wir uns erzählen. Der Wertegraben liegt auch der Leistungskluft und dem Wohlstandsgefälle zugrunde.
Was meinen Sie mit Wertegraben?
In Amerika existiert der Glaube, dass weiße Leute mehr zählen als andere. Er zeigt sich in unserer Gesinnung, in unserer sozialen Praxis, in unserer Politik und in unseren ökonomischen Beziehungen. Die unterschiedliche Wertschätzung von weißen Leben beeinflusst die Verteilung von Vorteilen und Nachteilen. Im Laufe der Geschichte hat der Wertegraben unterschiedlich ausgesehen. Aber wenn wir uns ansehen, wie Amerika organisiert ist, wie unsere Gemeinschaften getrennt sind, wie unsere Kinder unterrichtet werden, wie unsere Banken über Kredite entscheiden und wie unsere Krankenhäuser Dienstleistungen vergeben, dann sehen wir die entscheidende Rolle, die der Wertegraben und die Rasse in jedem Aspekt in der amerikanischer Gesellschaft spielen.
Wie definieren Sie das Wort „Rasse“?
Es ist schwer zu definieren. Es ist ein Weg – ein Wort –, um Unterschiede zwischen Menschen zu markieren. Es gibt eine unterschiedliche Werteskala, je nachdem ob jemand als weiß wahrgenommen wird oder nicht.
Wie unterscheidet sich der Rassismus in den USA von anderen Ländern?
Jedes Land hat seine eigene Geschichte. In den USA müssen wir uns mit der Realität unserer besonderen Form von Sklaverei auseinandersetzen.
Die Sklaverei in den heutigen USA war von Europäern organisiert.
Aber im Jahr 1808, als der transatlantische Sklavenhandel zu Ende ging, waren die USA seit 32 Jahren unabhängig. Anschließend haben sie ihre eigenen Zwangsarbeiter für den inländischen Sklavenmarkt gezüchtet. Wir haben die Gebärmütter von schwarzen Frauen zur Kapitalakkumulation genutzt. Diese unverwechselbare Art, in der das Land entstanden ist, hat seine Ökonomie und seine sozialen Beziehungen geprägt.
Sie nennen Baldwin in Ihrem Buch „Jimmy“. Was fasziniert Sie an ihm?
Er hat die Fähigkeit, die inhärenten Widersprüche der amerikanischen Demokratie zu beschreiben. Er ist der wichtigste Kritiker von Rasse und Demokratie, den das Land produziert hat. Er zeigt Charakter und Mut im Angesicht des Bösen. Seine Fähigkeit, zugleich Wut und Liebe auszudrücken und gleichzeitig verletzlich und wahnsinnig mutig zu sein – das zieht mich an.
In „Begin Again“ geht es nicht nur um Baldwins USA. Es ist auch eine scharfe Auseinandersetzung mit Ihrem Land im gegenwärtigen Moment. Würde Ihr Buch ohne Donald Trump existieren?
Es wäre auf jeden Fall ganz anders geworden. Ich musste dieses Buch schreiben, weil wir wieder einmal erlebt haben, wie das Land seine Ideen verraten hat – im Namen von einem gewissen Verständnis von Amerika als weiß. Weiße Leute sind uns erneut in den Rücken gefallen. Weiße Ressentiments, weiße Klagen und weiße Angst haben 2016 die Wahl für Donald Trump entschieden.
Jedes Schulkind in den USA lernt, dass die USA ein Leuchtturm von Freiheit und Demokratie sind.
Der Mythos von der amerikanischen Größe dient dazu, unseren Blick abzulenken. Amerika versteckt sich hinter der Illusion seiner Unschuld, seiner sogenannten Größe. In Wirklichkeit sind seine Hände blutig. Dieses Land lügt sich selber an, um seine Sünde zu verstecken. In den acht Jahren mit unserem ersten schwarzen Präsidenten haben wir den Hass, das Gift und die Ressentiments erlebt. Trotzdem dachte ich nicht, dass das Land jemanden, der so offensichtlich unqualifiziert ist wie Donald Trump, zum Präsidenten wählen würde.
Was können Aktivisten im Jahr 2020 von Baldwin lernen?
Die Wahrheit zu sagen und Zeugnis abzulegen. Und eine Welt auszudenken, in der die Farbe der Haut, die Postleitzahl, die körperlichen Fähigkeiten und wen man liebt keine Rolle spielen. Nicht auf einfache Antworten hereinzufallen. Nicht in die Falle von Identitätspolitik zu tappen.
Das klingt gut. Aber diese Verlangen gab es auch schon in der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre. Trotzdem ist wieder ein Rückschlag gekommen. Was ist nötig, um die Konfrontationen zwischen Schwarz und Weiß zu beenden?
Die abstrakte Antwort ist, dass das Land erwachsen werden muss. Es muss seine Windeln abstreifen. Es muss sich selbst eine bessere Geschichte darüber erzählen, was es getan hat und weiterhin tut. Aber die direkte Antwort ist vermutlich, dass jene von uns, die ein gerechteres Amerika wollen, alles riskieren müssen. Wir müssen aufhören, eine Generation nach der anderen zu verlieren. Jetzt sieht mein Sohn, wie schwarze und braune Kids von der Polizei getötet worden. Ich musste da durch. Mein Vater musste da durch. Sein Vater musste da durch. Ich möchte nicht, dass eine weitere Generation von schwarzen und braunen Kids mit dieser schrecklichen Erfahrung dieses Rituals von Erleben und Leiden aufwächst.
Manche schöpfen Hoffnung daraus, dass dieses Mal mehr Weiße in der Black-Lives-Matter-Bewegung aktiv sind als in der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre. Wie sehen Sie das?
Es gibt eine gewisse Bewegung, die mit der ökonomischen Realität zu tun hat. Die Pandemie hat in den USA zu mehr als 200.000 Toten und zu einer ökonomischen Destabilisierung geführt. Wir haben ein paar Prozent, die in der Pandemie reicher geworden sind. Aber gleichzeitig haben wir in dem angeblich großartigsten Land in der Geschichte der Welt lange Schlangen vor Nahrungsmittelausgaben. Das sind Menschen, die Hunger leiden – darunter weiße, schwarze und braune. Es gibt einen Konsens darüber, dass das Land pleite ist. Aber während Leute an Covid sterben und hart kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen, erleben sie weiterhin, was die Polizei braunen und schwarzen Leuten antut. Die Realität dieses Moments ist, dass wir uns nicht abwenden können. Das gibt eine Öffnung, um die Dinge anders zu imaginieren. Aber es ist keine Garantie.
Bieten die Wahlen im November einen Ausweg?
Sie werden nichts regeln. Ganz egal, ob Donald Trump gewinnt oder verliert, werden wir einen Haufen Ärger haben. Wenn er gewinnt, wird es Mutlosigkeit und die Furcht geben, dass er die Wahlen gestohlen hat. Wenn er verliert, wird es Leute geben, die bereit sind, gewaltsam zu handeln. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir Zweifel an der friedlichen Weitergabe der Macht. Wir müssen uns auf eine Intensivierung des Konflikts nach der Wahl einstellen. Zugleich ist klar, dass Donald Trump nicht nur das Problem ist. Er ist auch ein Symptom des Problems. Er wurde von einer Schar amerikanischer Politiker gestützt. Wir brauchen eine radikale Neuausrichtung darüber, wie wir zusammenleben können. Ich weiß nicht, ob wir dazu die Courage haben. Aber der Kampf hat begonnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge