Gitarrist Arto Lindsay: Lärm ist allumfassend
Arto Lindsay ist Grenzgänger zwischen Pop und No Wave, Rio de Janeiro und New York. Die Werkschau „Encyclopedia of Arto“ zeigt seine vielen Seiten.
Von seiner Wohnung im Stadtteil Jardim Botânico sind es gerade mal 15 Minuten bis an den Strand von Rio de Janeiro, der namensgebende botanische Garten ist ganz in der Nähe. „Ich lebe in einem schönen Viertel“, räumt der 61-jährige Arto Lindsay ein. Über die Lage des Landes macht er sich anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft wenig Illusionen. „Brasilien hat strukturelle Probleme. Und wir haben hier starken Rassismus, auch wenn die Leute manchmal versuchen, so zu tun, als sei das nicht der Fall.“
Pessimistisch ist der US-Amerikaner, der 2009 nach Rio zog, aber nicht. Die Brasilianer seien erstaunlich gut darin, Dinge zu bewältigen. Und die Proteste im Land hält er für ein gutes Zeichen: „Auch wenn noch keine praktischen Verbesserungen durch die großen Demonstrationen zu spüren sind, hat doch die bloße Tatsache, dass es sie gegeben hat, große Auswirkungen darauf gehabt, wie die Menschen denken und miteinander reden.“
An seiner Freude am Fußball haben die Proteste ebenso wenig geändert: „Ich liebe Fußball, schon seit meiner Kindheit, doch ich weiß seit Langem, dass die Fifa einen schlechten Ruf hat.“ Sogar sein zehnjähriger, fußballbegeisterter Sohn sei sich dessen bewusst, dass die Fifa eine „lausige“ Organisation ist.
Sohn zweier Missionare
Arto Lindsay: „Encyclopedia of Arto“ (Ponderosa/Edel); To Rococo Rot: „Instrument“ (City Slang/Indigo)
Live: 4. Juli, TFF Rudolstadt, 7. Juli, Volksbühne Berlin
Arto Lindsay, der als Sohn zweier Missionare in Brasilien aufwuchs, fühlt sich an die Anfänge der Militärdiktatur in den sechziger Jahren erinnert. Damals habe das Militär versucht, den Sport für propagandistische Zwecke zu nutzen. Es sei ihm daher schwer gefallen, die eigene Nationalelf mit offenem Jubel zu unterstützen. Seine Sympathien liegen gleichwohl bis heute bei der Seleção.
Die brasilianische Kultur ist für Lindsay ständig als Einfluss präsent gewesen, selbst als er in den siebziger Jahren nach New York zog, wo er sich mit Performance-Kunst beschäftigte und für die er mit seiner No-Wave-Band DNA wenig später eigene Ausdrucksformen finden sollte. Durch seinen Mitbewohner, den brasilianischen Dichter Waly Salomão, lernte er Tropicalistas wie den Künstler Hélio Oiticica oder den Filmemacher Julio Bressane kennen.
Zwar hatte er die Tropicália-Bewegung noch in Brasilien erlebt, den kulturellen und politischen Zusammenhang begann er jedoch erst durch die Exilbrasilianer in New York zu verstehen.
Brückenschlag zwischen Lindsays New Yorker und seiner „brasilianischen“ Phase
„Encyclopedia of Arto“ heißt ein neues Doppelalbum, das inhaltlich eine Art Brückenschlag zwischen Lindsays New Yorker und seiner „brasilianischen“ Phase versucht. Wobei diese Zusammenstellung ihren Titel mehr der Ironie halber trägt: Genau genommen ist es eine Auswahl aus seinen zwischen 1996 und 2004 veröffentlichten Soloalben, der auf der zweiten Hälfte Live-Versionen gegenübergestellt werden.
Lindsays Soloalben von „O corpore subtil“ bis „Salt“ sind abenteuerlustige Popmusik, in der brasilianische Einflüsse, Funk, HipHop und Noise sich in immer wieder wechselnden Anteilen vermischen, überlagern oder gegenseitig um Aufmerksamkeit buhlen. Ihr großer Reiz liegt in der Spannung, die noch in den zurückgelehntesten Bossa-Nummern jederzeit hervorbrechen kann – durch einen unerwartet abgründigen Bass, heftige Trommel-Einwürfe oder eine der unberechenbaren Gitarrenattacken Lindsays.
Die Live-Versionen, von denen ein Großteil im Berliner Club Berghain aufgenommen wurden, verzichten hingegen auf jegliche Konventionen, lassen gerade mal die Gesangsstimme als Orientierungsmarke zurück und beschränken sich auf Lindsays Geräusch-Abstraktionen an der Gitarre als einzige Begleitung. In dieser Doppelgesichtigkeit behandelt er sein Songmaterial wie Kippfiguren: Man kann darin sowohl den lauernd zugewandten als auch den in seinem spröden Klangkosmos zugleich eingekapselten wie verletzlich exponierten Künstler entdecken.
„Songs“ ohne Melodien oder Akkorde
Seinen völlig atonalen, rein perkussiven Stil entwickelte Arto Lindsay Ende der siebziger Jahre in New York als Gitarrist der Band DNA. An jene Zeit knüpfen die Live-Versionen hörbar an: „Die neuesten Aufnahmen auf dem Album sind in gewisser Weise wie meine frühes Werk mit DNA.“
Die extremen Klänge von DNA, die ihre eckigen „Songs“ ohne Melodien oder Akkorde darboten, entsprangen weniger dem Bedürfnis, Angstgefühle und Aggression zu ventilieren – was viele der No-Wave-Bands ausgiebig taten – als einem ästhetischen Fortschrittsdenken: „Ich hatte den Wunsch, etwas Neues und anderes zu machen.“
Über die kommerziellen Aussichten seiner Musik war sich Lindsay dabei wenig im Klaren: „Naiverweise dachte ich, wenn wir etwas Neues und anderes machen, würden wir auch erfolgreich sein. Ich glaube, wir wurden sehr oft missverstanden. Die häufigste Frage, die uns gestellt wurde, war: ’Nun, dieser Lärm in eurer Musik kommt doch sicher daher, dass ihr in New York lebt, wo es all die U-Bahnen und Sirenen gibt, oder?‘ Wir erwiderten stets: Noise hat nichts mit Verneinung zu tun, es ist einfach allumfassend.“ Neu und anders ist seine Musik bis heute geblieben.
Meisterwerke der Ambivalenz
Seine Pop-Alben sind Meisterwerke der Ambivalenz, die sich nicht nur musikalisch, sondern auch in Lindsays oft mit Unschärfen und paradoxen Bildern arbeitenden Texten artikuliert. Dass es jetzt eine Art Best-of von ihm gibt, will Lindsay keinesfalls als künstlerische Bilanz verstanden wissen. Dazu fehlen ohnehin seine frühen Jahre mit DNA, als Gitarrist der Fake-Jazz-Formation Lounge Lizards oder mit seinem ersten „Pop“-Projekt Ambitious Lovers, um nur einige zu nennen.
Lindsay betreibt seine Grenzgänge weiter, tritt mit dem norwegischen Free-Jazz-Schlagzeuger Paal Nilssen-Love auf, spielt in Brasilien mit Candomblé-Musikern, auch ein neues Album mit Songs ist geplant.
In Berlin ging Lindsay unlängst mit der Postrock-Band To Rococo Rot ins Studio, um ihr für das Album „Instrument“ seine Stimme zu leihen. Die ersten Gesangsnummern zeigen Lindsay in ungewohnt minimalistischer Pop-Umgebung. To Rococo Rot stehen für Lindsays anhaltende Berlin-Begeisterung. Zu Westberliner Zeiten begegnete er dort Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten und sammelte einschlägige Cluberfahrungen: „Das erste Mal, dass ich in einer Disco war, in der es lauter unterschiedliche Leute gab, war im Dschungel. Mir gefiel das ganze Afterhours-Nachtleben.“
Der Geist der kompromisslosen Erneuerung fehlt
Im aktuellen Pop beklagt Lindsay mitunter die geschwundene gesellschaftliche Bedeutung und vermisst große Gegenwartsrichtungen wie seinerzeit bei HipHop, allerdings gibt es nach wie vor viel Musik, die ihm gefällt. In Brasilien verfolgt Lindsay die neueren Entwicklungen von Baile Funk zu Rasteirinha ebenfalls aufmerksam. „Die Musiker vermischen brasilianische Rhythmen mit Funk. Der Funk breitet sich jetzt von Rio aus“, freut er sich. Bloß der Geist der kompromisslosen Erneuerung fehlt ihm etwas: „Ich hoffe sehr, dass das wieder in Mode kommt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“