Gewerkschaftsarbeit im Einzelhandel: Beraten, verkaufen, streiken
Niedrige Löhne und hohe Belastung prägen oft den Einzelhandel. Die Gewerkschafterin Phuc Chu Thi Hong setzt sich seit Jahren für bessere Bedingungen ein.
Heute ist Chu Thi Hong 38 Jahre alt – und arbeitet nun schon seit 14 Jahren bei COS. In dem Geschäft am Kurfürstendamm hat sie 2015 den ersten Betriebsrat von COS in Berlin gegründet und jahrelang dessen Vorsitz übernommen. Bei Verdi ist sie leidenschaftliche Gewerkschafterin und war in den vergangenen Jahren immer wieder an Streiks im Einzelhandel beteiligt. Über ihre ersten Jahre bei COS sagt sie heute: „Ich bin damals reingegangen mit dem Gedanken: ‚Dieses Unternehmen ist anders‘ – und wurde eines Besseren belehrt.“
Ende 2023 waren in Berlin laut Arbeitsagentur rund 120.000 Menschen im Einzelhandel beschäftigt, knapp 60 Prozent davon Frauen und fast die Hälfte in Teilzeit. Auch Chu Thi Hong wird zunächst als studentische Hilfskraft mit zehn Wochenstunden angestellt. Fortan berät sie Kund*innen, macht den Verkauf und verräumt die Ware. Sie arbeitet nicht zum ersten Mal im Einzelhandel und weiß: Wer hier durchhalten will, muss belastbar sein. „Man hat fast immer mehr Arbeit, als man eigentlich schafft“, sagt Chu Thi Hong. Trotzdem kommt sie gut im neuen Job an. Mit dem Team versteht sie sich gut, auch die Beratung macht ihr Spaß: „Das sind immer schöne Momente für mich, wenn ich einen Kunden glücklich machen kann.“
Mit der Zeit merkt Chu Thi Hong jedoch, dass die Dinge nicht so laufen, wie sie es sich erhofft hatte. Immer weniger Mitarbeiter*innen seien angestellt worden, während der Pandemie seien viele Kolleg*innen in Kurzarbeit geschickt worden. Von ihrem Team habe man jede Menge Flexibilität erwartet. „Einsatzpläne wurden oft so kurzfristig erstellt, dass man kaum einen Termin beim Arzt machen konnte, weil man nicht wusste, wann man eingesetzt wird“, erzählt sie.
Wer durchhalten will, muss belastbar sein
Über sich selbst sagt Chu Thi Hong: „Mir ist es sehr wichtig, dass Gerechtigkeit herrscht.“ Deshalb habe sie auch nie verstanden, warum sie als Studierende in den Frühschichten eingesetzt wurde – Mütter hingegen, die die Frühschichten wegen der Kinderbetreuung gebraucht hätten, nicht. „Das war für mich einer der Gründe, weswegen ich den Betriebsrat gegründet habe.“
Chu Thi Hong und ihre Kolleg*innen nehmen Kontakt zu einem Betriebsrat von COS in Stuttgart auf, um sich über den Ablauf der Gründung zu informieren. Ende 2015 findet dann am Ku'damm die Betriebsratswahl statt, Chu Thi Hong wird Vorsitzende. Seither setzt sie sich für eine faire Personaleinsatzplanung ein.
Werden Absprachen vom Arbeitgeber nicht eingehalten, lehnt der Betriebsrat Einsatzpläne auch mal ab. Angestellte sind nicht dazu verpflichtet, nach einem abgelehnten Einsatzplan zu arbeiten – „trotzdem hat der Arbeitgeber uns phasenweise die Löhne gekürzt, wenn die Mitarbeiter*innen nicht zur Arbeit angetreten sind“, erzählt Chu Thi Hong. Rechtmäßig ist das nicht und man kann theoretisch den vollen Lohn einklagen. In der Praxis gestaltet sich das allerdings schwierig. „Bis man das geschafft hat, können Jahre vergehen. Und längst nicht jeder von uns hat eine Rechtsschutzversicherung.“ Zuletzt habe man sich deshalb auf einen Kompromiss geeinigt.
Männer verdienen im Schnitt mehr als Frauen
Kurz nach der Betriebsratsgründung wird Chu Thi Hong Verdi-Mitglied und engagiert sich ehrenamtlich. Seit acht Jahren ist sie Teil der Tarifkommission. Wegen der Inflation reiche das Gehalt im Einzelhandel kaum noch zum Überleben, sagt sie. Laut einer Analyse der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung liegt der mittlere Bruttolohn für Vollzeit-Beschäftigte mit zehn Jahren Berufserfahrung bei 2.470 Euro – wobei Männer im Schnitt neun Prozent mehr als Frauen verdienen.
Für Chu Thi Hong war daher immer klar, dass sie sich an Streiks im Einzelhandel beteiligen wird. Anfangs war sie die einzige streikende Mitarbeiterin aus einem Berliner COS-Store, doch seit der Pandemie habe sie immer mehr Kolleg*innen davon überzeugen können, mitzukommen: „Letzten Herbst haben wir es sogar einmal geschafft, dass der Laden für zwei Stunden schließen musste“, erzählt sie stolz.
Laut Verdi haben seit vergangenem Jahr Beschäftigte aus mehr als 250 Einzelhandelsbetrieben in Berlin und Brandenburg über 55 Streiktage organisiert. Im Juli einigten sich Arbeitgeber*innen und Gewerkschaften schließlich auf einen Tarifvertrag: Bis 2026 wird der Lohn in drei Schritten erhöht, zusätzlich gibt es einen Inflationsausgleich von bis zu 1.000 Euro. Inklusive Altersvorsorge beträgt die Erhöhung etwa 14 Prozent.
Für Chu Thi Hong ist das kein echter Erfolg: „Unsere Tarifkommission hatte eine Laufzeit von zwölf Monaten gefordert“, sagt sie. Auch die Inflationsprämie sieht sie kritisch: „Im Kleingedruckten steht sinngemäß: Wer in Elternzeit ist, wer dieses Jahr neu eingestellt wurde und noch keine sechs Monate beschäftigt ist, bekommt keine Inflationsprämie. Teilzeitbeschäftigte bekommen sie nur anteilig – was im Endeffekt eine Benachteiligung von Müttern und Frauen ist.“
Als COS-Betriebsrätin und Verdi-Gewerkschaftsmitglied habe sich ihr Arbeitsalltag „komplett verändert“, sagt Chu Thi Hong: „Davor habe ich Kunden beraten, jetzt habe ich einen Bürojob.“ Manchmal vermisse sie die Arbeit im Verkauf. Sie will deshalb versuchen, dort einen Tag pro Woche zu arbeiten. „Um weiter den Kontakt zu den Kolleginnen zu behalten, aber auch, weil es mir einfach Spaß macht.“
Wie lange sie noch im Einzelhandel arbeiten will, weiß Phuc Chu Thi Hong noch nicht. „Ich bin langsam an einem Punkt, an dem ich nicht mehr viel Neues lerne – außer im Betriebsrat“, sagt sie. Vom Ziel, Modedesignerin zu werden, habe sie sich mittlerweile verabschiedet.„Ich möchte lieber einen Mehrwert schaffen, das habe ich in dem Bereich irgendwann nicht mehr gesehen.“ Die Arbeit im Betriebsrat und in der Gewerkschaft hätten sie als Person sehr geprägt: „Als ich hier angefangen habe, war ich super schüchtern und viel weniger selbstbewusst als heute – und ich hinterfrage die Dinge viel stärker als früher.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!