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Gewalttaten lassen sich nicht voraussagen

Nach einer Reihe von Angriffen durch psychisch Kranke wird diskutiert, ob diese Menschen eine besondere Gefahr darstellen und wie ihnen geholfen werden könnte. Die Politik prüft, wie sie sich besseren Zugang zu Patientendaten verschaffen könnte. Antworten auf die wichtigsten Fragen

Polizisten sichern Spuren nach dem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof Foto: Georg Wendt/dpa

Von Eiken Bruhn

Am Dienstag beginnt vor dem Landgericht Bremen der Prozess gegen eine 42-Jährige, die an Heiligabend 2024 in der Bremer Psychiatrie ihre 20 Jahre ältere Zimmernachbarin getötet haben soll. Laut Anklage drückte die Frau ihrer Mitpatientin zunächst ein Kissen auf das Gesicht und würgte sie, bis sie starb. Die Schuldfähigkeit der Angeklagten soll bei der Tat unter anderem aufgrund einer akuten psychotischen Störung erheblich vermindert gewesen sein. Daher befindet sie sich bereits jetzt in einstweiliger Unterbringung im Maßregelvollzug. Das ist die Haftanstalt für psychisch Kranke.

Die Frage, wie Gewalttaten psychisch Kranker verhindert werden können, wird seit einer Reihe von Angriffen im vergangen Jahr diskutiert. Zuletzt hatte vor drei Wochen eine 39-jährige Frau am Hamburger Hauptbahnhof Menschen mit einem Messer attackiert. 18 wurden dabei verletzt, vier von ihnen lebensgefährlich. Die Tatverdächtige war am Tag zuvor aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden, wo sie laut Medienberichten wegen Wahnvorstellungen behandelt wurde.

In der vergangenen Woche befassten sich die Ge­sund­heits­mi­nis­te­r:in­nen der Bundesländer auf ihrer Konferenz mit dem Thema. In einer Presseerklärung heißt es, es brauche einen „ganzheitlichen Ansatz zur Verhinderung von Gewalttaten durch psychisch erkrankte Personen“.

Hamburgs Gesundheitssenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) forderte zudem eine bessere „Zusammenarbeit von Gesundheits- und Sicherheitsbehörden“. Dazu gehöre ein „rechtssicherer, ressortübergreifender, auch über Ländergrenzen hinweg praktizierter Informationsaustausch“.

Bereits im Januar nach der Tötung eines Kleinkindes und eines Erwachsenen in Aschaffenburg durch einen Mann hatte die Innenministerkonferenz gefordert zu prüfen, wie den Sicherheitsbehörden Zugang zu Pa­ti­en­t:in­nen­da­ten verschafft werden könnte. Zudem sollte geprüft werden, „wie die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten insbesondere nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKGen) der Länder angepasst bzw. erweitert werden können“.

Was bedeutet das alles und was würde sich konkret verbessern? Wie sollen diese Ideen mit der ärztlichen Schweigepflicht sowie der UN-Behindertenrechtskonvention, die Zwangsbehandlungen nur in Ausnahmefällen erlaubt, in Einklang gebracht werden? Steckt mehr hinter diesen Ankündigungen als ein Versuch, die öffentliche Aufregung zu beschwichtigen? Das ist unklar. Zur Einordnung liefert die taz ein paar Fakten.

Sind psychisch Kranke häufiger gewalttätig als Gesunde?

Nein. Dazu eine Begriffsklärung: Laut Robert-Koch-Institut erhielten 40,4 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland im Jahr 2023 die Diagnose einer psychischen Störung. Dazu zählen neben Depressionen auch Schlafstörungen und Demenzerkrankungen.

Eine erhöhte Gewalttätigkeit gegen andere ist nur für Menschen nachgewiesen, die an Psychosen leiden. Dies gilt für Männer sehr viel häufiger als für Frauen, wie eine Meta-Analyse von 24 Studien zeigte, die sehr unterschiedliche Häufigkeiten angeben. Und: Während andere psychische Erkrankungen in Deutschland zunehmend diagnostiziert wurden, gingen die Diagnosen bei wahnhaften Störungen zurück: Zwischen 2012 und 2022 sanken sie von 1,1 auf 0,9 Prozent.

Zudem übt der überwiegende Teil der psychotisch Erkrankten keine Gewalt gegen andere aus – obwohl zu ihrem Krankheitsbild das Gefühl starker Bedrohung gehört. Ein Anstieg von Gewalttaten psychisch Kranker im öffentlichen Raum oder privaten Umfeld lässt sich derzeit nicht belegen. Dass bundesweit die Zahl derjenigen angestiegen ist, die im Maßregelvollzug untergebracht werden, also Straftaten begangen haben ohne schuldfähig zu sein, kann auch andere Ursachen haben.

Werden psychisch Kranke häufiger Opfer von Gewalt?

Ja. Das Risiko für körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen ist für Personen mit Psychiatrieerfahrung laut einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2014 um den Faktor 1,4 bis 11,8 gegenüber der Normalbevölkerung erhöht, schreiben For­sche­r:in­nen der Universität Ulm 2018 in einem Beitrag. Frauen würden dabei häufiger viktimisiert als Männer. Für sie ist auch ein erhöhtes Risiko, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, belegt. Selbsthilfeverbände wie der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) weisen darauf hin, dass die stationäre Behandlung, teilweise unter Zwang, für alle Beteiligten gewaltfördernd wirkt. Man könnte auch argumentieren, dass Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung gewalttätig werden, sowohl Tä­te­r:in­nen als auch Opfer sind, weil sie sich selbst schädigen.

Welche Folgen hat die Art, wie derzeit über den Zusammenhang zwischen Gewalt und psychischer Erkrankung diskutiert wird?

Egal, wen man derzeit fragt, die Meinung ist einhellig: Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, vor allem die, die Psychosen kennen, sind sehr verunsichert. Auf einem Fachtag Anfang Juni zu 50 Jahren Psychiatrie-Enquete des deutschen Bundestags verabschiedeten die Teilnehmenden eine Resolution, die vor Stigmatisierung und deren Folgen warnt.

„Es schreckt gerade die von Hilfe ab, die sie am dringendsten brauchen.“ Das sagte auch Thomas Bock, Gründer und ehemaliger Leiter der Psychosenambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Ende Mai in einem Interview mit der taz. Studien zeigen, dass die Stigmatisierungerfahrungen von Menschen, die an psychotischen Erkrankungen wie Schizophrenie leiden, zugenommen haben – während das Verständnis für andere psychische Erkrankungen gewachsen ist.

Hätten sich die Taten in Bremen und Hamburg verhindern lassen?

Das ist nicht abschließend geklärt und wird es möglicherweise auch nicht, weil sich Gewalttaten nicht voraussagen lassen. Der Fall aus Bremen zeigt, dass auch ein „Wegsperren“ keinen zuverlässigen Schutz bietet. Der mutmaßlichen Täterin war nach einem Bericht des Weser Kuriers angeboten worden, trotz fehlenden Behandlungsgrunds in der Klinik zu bleiben – weil sie obdachlos war.

Erhöhte Gewalttätigkeit ist nur für Menschen nachgewiesen, die an Psychosen leiden

Das dürfen Kliniken eigentlich nicht, weil Krankenkassen keine Wohnunterbringung finanzieren. Umgekehrt dürfen Kliniken Menschen auch nicht unbegrenzt gegen ihren Willen festhalten, weswegen die Frau in Hamburg trotz ihrer wohl schweren Erkrankung wieder entlassen worden war – ebenfalls in die Obdachlosigkeit.

Das liegt daran, dass der Zwangsbehandlung von Menschen in Psychiatrien in Deutschland enge Grenzen gesetzt sind, wobei die Regelungen der Bundesländer voneinander abweichen. Hinzu kommen Probleme bei der Umsetzung, weil die Gerichte und Staatsanwaltschaften in vielen Regionen so überlastet sind, dass sie nicht zeitnah über Anträge entscheiden können.

Lässt sich präventiv nicht mehr machen?

Doch, mit Sicherheit. Eine Möglichkeit sind Wohnheime für obdachlose Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in Notunterkünften aufgenommen werden können, wie es sie in Bremen und Köln gibt. Die nach dem Kölner Vorbild 2018 eröffnete Einrichtung in Bremen hält 27 Plätze in Einzelzimmern vor mit durchgehender sozialpä­dagogischer Betreuung vor Ort. Der Frauenanteil ist laut Sozialbehörde mit zwei Dritteln überdurchschnittlich hoch. Die durchschnittliche Verweildauer betrage 2,5 Jahre.

Träger ist die Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission. Deren Leiter Axel Brase-Wentzell sagt, er sei froh, den Menschen diesen Ort anbieten zu können, an dem sie die Tür hinter sich zu machen und zur Ruhe kommen können. Es bleibe aber eine Notlösung für Menschen, die bereits durchs Raster der Unterstützungssysteme gefallen seien. Deshalb müsse Prävention noch davor ansetzen. Obdachlosigkeit an sich fördere psychische Erkrankung.

„Wir brauchen Wohnraum, Wohnraum, Wohnraum“, sagt Axel Brase-Wentzell. Ohne diesen sei auch die ambulante Behandlung zu Hause, wie sie beispielsweise in Bremen voran getrieben wird, schwierig. „Wie wollen wir Home Treatment umsetzen, wenn kein Home vorhanden ist?“

Zwangsbehandlung von Menschen in Psychiatrien sind in Deutschland enge Grenzen gesetzt

Die Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) hat zudem angekündigt, dass die Versorgung von psychisch Kranken mit Flucht­erfahrung verbessert werden soll. Vier der fünf Männer, die in diesem und im vergangenen Jahr ein Attentat verübt haben, waren aus Bürgerkriegsländern geflüchtet.

Welche Pläne haben die Bundesländer?

Unabhängig von den Gewalttaten arbeiten Kliniken und Behörden in vielen Bundesländern an einer besseren und koordinierteren Versorgung psychisch Kranker mit mehr aufsuchender Hilfe. Seit den Gewaltvorfällen aus diesem und dem letzten Jahr reden zudem sowohl die Innen- als auch die Ge­sund­heits­mi­nis­te­r:in­nen viel davon, den Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden und dem Hilfesystem zu verbessern.

So hatte Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) im Januar für Bremen ein „Frühwarnsystem“ versprochen. Die Innenministerkonferenz unter seinem Vorsitz verlangte „gefährdungsrelevante Erkenntnisse zu psychisch Erkrankten“. Was das konkret bedeutet, ist nach wie vor unklar, da einerseits Pa­ti­en­t:in­nen­da­ten in Deutschland besonders geschützt werden müssen und andererseits die (Be-)Handlungsoptionen begrenzt sind.

Das wird auch eine Herausforderung für das Hamburger Vorhaben. Auf Nachfrage der taz lässt Hamburgs Gesundheitssenatorin mitteilen, eine Fachstelle solle „frühzeitig Risikopatientinnen und -patienten identifizieren und entsprechende Hilfsangebote koordinieren, um schwere Krankheitsverläufe und damit verbundene Straftaten zu verhindern“. Schon in den kommenden Wochen solle dieses „Konzept zum Risikomanagement“ vorgestellt werden.

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