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Gewaltiger Irrtum

Ob Göteborg, ob Seattle, ob Achtundsechzigerrevolte: Gewalt, darin sind sich alle einig, ist immer und überall abzulehnen. Warum eigentlich?

von CHRISTOPH QUARCH

Aufgereiht wie Barbiepuppen präsentieren die starr lächelnden blonden Kandidatinnen eines Beauty Contest ihre normgerechten Körper; und kaum treten sie in den Lichtpegel, um einem dümmlichen Moderator zu sagen, wofür sie sich engagieren, geben sie alle die gleiche normgerechte Antwort: „Für den Weltfrieden“. Tosender Beifall.

Diese Szene aus einem seichten Hollywoodschmankerl („Miss Undercover“) erinnert fatal an das, was bestenfalls Wohlmeinende die gegenwärtige „politische Kultur“ in Deutschland zu nennen bereit sind. Denn – wie die jüngste Debatte um die Vergangenheit deutscher Spitzenpolitiker gezeigt hat – man braucht nur die Worte „für den Weltfrieden“ durch die Phrase „gegen Gewalt“ zu ersetzen, um sich des ungeteilten Beifalls der bundesdeutschen Öffentlichkeit sicher sein zu dürfen. In der Ablehnung der Gewalt sind sich alle einig – so einig, dass selbst das hohlste Geschwätz noch mit freundlichem Nicken quittiert wird, sofern nur die Versicherung nicht fehlt, Gewalt sei schlimm und unbedingt abzulehnen.

Ohne den Ursachen dieses eigentümlichen Symptoms gegenwärtiger Kultur(losigkeit) nachforschen zu wollen, lässt sich konstatieren, dass neuerdings ein – der Neologismus sei verziehen – Antiviolentismus um sich greift: eine geistige Formation, an deren Spitze der Ökumenische Rat der Kirchen steht, der mit seiner Anfang 2001 ins Leben gerufenen „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ offenbar angetreten ist, dem lieben Gott die Mühe der Apokalypse abzunehmen und das himmlische Jerusalem im Alleingang herbeizuführen.

In diesem Klima der Gewaltächtung können sich gar die Macher der Springerblätter Bild und Welt erkühnen, in die Rolle antiviolentistischer Bußprediger zu schlüpfen. Hier wird das Credo der Gewaltlosigkeit zur Waffe im politischen Kampf – zur Geißel, mit der ein jeder, der nicht ohne Wenn und Aber gegen Gewalt ist, zu Reue und Demut gezwungen werden soll; und sei es der deutsche Außenminister. „Gewalt hat in der Demokratie nichts zu suchen“, deklamierte die Welt während der Fischer-Debatte. „Joschka Fischer zu verzeihen heißt, allen zu verzeihen.“

Anlass zu diesen eifernden Worten gaben die Anfang des Jahres im Stern veröffentlichten Fotos eines auf einen Polizisten einprügelnden jungen Joschka Fischer. Hinzu kommen unterschiedliche Äußerungen des Außenministers, die nach Meinung seiner Gegner ein „zwiespältiges Verhältnis zur Gewalt“ erkennen lassen. Wenig später wurde dann Bundesumweltminister Jürgen Trittin – unter Zuhilfenahme manipulierter Fotografien – dem antiviolentistischen Springer-Tribunal vorgeführt. Zugleich weitete sich die Anklage auf die ganze Generation der Achtundsechziger: Sie hätten sich nicht mit der gebührenden Eindeutigkeit gegen die partielle Gewalt der damaligen Studentenrevolte ausgesprochen.

Der Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer hat diesen neudeutschen Antiviolentismus als Ausfluss einer „Bankangestelltenmentalität“ gebrandmarkt. Deren Kennzeichen sei ein „regressiver, unanalytischer Moralismus“, dessen trostlose Banalität in der Erwägung kulminiere, „die zurzeit betroffenen 68er müssten sich ihrer Vergangenheit stellen, so wie die Deutschen sich ihrer Nazivergangenheit gestellt hätten“. Tatsächlich zeigt dieser Kurzschluss von 1933 zu 1968 die himmelschreiende Kurzsichtigkeit der für den Antiviolentismus typischen undifferenzierten Tabuisierung der Gewalt.

Demgegenüber hatte die Epoche der Achtundsechziger den Vorzug, sich zum Thema Gewalt auf angemessenere Weise zu verhalten: zwiespältig – sofern Zwiespältigkeit das Vermögen impliziert, differenziert zu denken. Verglichen mit dem Niveau der Diskurse der Sechzigerjahre zur Frage der Gewalt erscheint die heutige pauschale Diffamierung der Achtundsechziger als fortgeschrittenes Symptom der dramatischen Entgeisterung dessen, was früher einmal die politische Elite dieses Landes war.

Diese Entgeisterung zeigt sich nicht nur darin, dass man sich nicht der Mühe unterzieht, die Diskurse der Achtundsechziger zu rekonstruieren – was man tun müsste, um das damalige Tun und Denken eines Joschka Fischer verstehen zu können. Sie zeigt sich ebenso in der mangelnden Bereitschaft, die darin vorgetragenen Argumente für und wider die Gewalt überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wer liest denn noch Georges Sorels „Über die Gewalt“, Walter Benjamins „Kritik der Gewalt“ oder Hannah Arendts Essay über „Macht und Gewalt“? Wer weiß noch, dass Jean-Paul Sartre in seinem Vorwort zu Franz Fanons „Die Verdammten der Erde“ (eine Glorifizierung der Gewalt sondergleichen) schreiben konnte, die „ununterdrückbare Gewalt“ marodierender algerischer Bauern sei „der Mensch, der sich selbst schafft“?

Unter den durchaus anspruchsvollen Theorien, die im 20. Jahrhundert der Gewalt das Wort redeten, nimmt zweifellos der in der politischen und juristischen Wissenschaft geführte Diskurs über das Prinzip des Politischen eine bevorzugte Stellung ein. Dessen exponierte Köpfe – in Deutschland so unterschiedliche Denker wie Carl Schmitt und Walter Benjamin – waren bei aller Differenz ihrer Ansätze einig darin, dass gewaltsame revolutionäre Unterbrechungen bestehender Rechtsordnungen unausweichlich sind, um den historischen Prozess der Verrechtlichung des Politischen in Gang zu halten. Oder man nehme die durch Friedrich Nietzsche und Henri Bergson inspirierte Glorifizierung der Gewalt als Manifestation authentischer Lebenskraft.

Mit diesen und anderen philosophischen Instrumentarien diskutierten die Achtundsechziger rund um den Globus das Zerbröckeln des europäischen Imperialismus, den Vietnamkrieg oder die Aufstände gegen die stalinistische Okkupation Osteuropas. Und vor ihrem Hintergrund war und ist es keineswegs anrüchig, die Frage zu stellen, ob es einen Unterschied zwischen der revolutionären Gewalt unterdrückter Menschen und der rassistischen Gewalt nationalsozialistischer Schergen gibt. Und ebenso wenig war und ist es moralisch verwerflich, das Bombenattentat auf einen Diktator zu begrüßen, das Bombardement vietnamesischer Dörfer jedoch abzulehnen.

In einem solchen zwiespältigen Verhältnis zur Gewalt zeigt sich vielmehr das Bewusstsein darum, dass Gewalt – wie Hannah Arendt treffend formulierte – „ihrer Natur nach instrumental“ ist. „Wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zweckes, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt.“ Folglich ist es bei jeder Beurteilung gewalttätiger Aktionen unerlässlich, deren Intention zu ermitteln.

Bleiben wir aber bei Hannah Arendt. Gewalt, schreibt sie, „ist in dem Maße rational, als sie wirklich dazu dient, den Zweck, der sie rechtfertigen muss, zu erreichen. Und da Menschen, wenn sie zu handeln beginnen, niemals wissen oder wissen können, (...) was schließlich die Folgen ihres Tuns sein werden, ist Gewalttätigkeit in dem Maße rational, (...) als sie kurzfristige Ziele verfolgt. Mit Gewalt heizt man weder die Lokomotive des Fortschritts noch der Geschichte oder der Revolution, aber sie kann durchaus dazu dienen, Missstände zu dramatisieren und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. (...) Gewalt nämlich, im Gegensatz zu dem, was ihre Propheten uns glauben machen wollen, ist erheblich geeigneter, Reformen zu erzwingen als Revolutionen auszulösen.“

Mit dieser Position wendet sich Arendt deutlich gegen alle marxistischen oder pseudomarxistischen Gewaltapologeten von Lenin über Sorel bis Sartre, die Gewalt als treibende revolutionäre Energie zum Ausbruch aus dem Bestehenden feierten. Ihnen hält sie entgegen, dass revolutionäre Energie immer das Produkt bereits vorhandener Macht ist, die – anders als Gewalt – ausschließlich aus dem geteilten Wollen einer Mehrheit handelnder Menschen erwachse. Ohne eine sie tragende und rechtfertigende Macht könne Gewalt daher weder zum Ziel kommen noch den Anspruch auf Rechtmäßigkeit erheben. Erfolg habe sie allenfalls dann, wenn ihrem kurzfristigen Auftreten keine Macht entgegensteht beziehungsweise die dominante Macht in Gestalt einzelner Reformen der Gewalt nachgibt und ihr so den revolutionären Elan nimmt.

Tatsächlich gibt die Geschichte der Achtundsechziger dieser Theorie Recht: Einerseits provozierten die versprengten gewalttätigen Aktionen der damaligen „Revolutionäre“ Reformen. Andererseits dürfte der Erfolg der kulturellen Revolution, die 1968 unzweifelhaft stattgefunden hat, darin zu suchen sein, dass die verstaubte Kultur der Nachkriegsära längst machtlos war, bevor der erste Student auf die Straße ging. Eine politische Revolution aber hat es weder 1968 noch in den Folgejahren gegeben. Zu tragend war der Konsens der demokratischen Bundesrepublik, als dass ein revolutionärer Funke ihre Gesellschaft hätte entflammen können. Wo jedoch ungeachtet dessen weiterhin die Revolution erträumt wurde, setzte ein Mechanismus der Verselbstständigung von Gewalt ein, der zu Recht Terrorismus genannt wird und dessen Kennzeichen es ist, die Gewalt zum Selbstzweck zu erheben.

Und dann war da noch das Häuflein derer, die sich als „Spontis“ verstanden, weiterhin munter Gewalt predigten, im Frankfurter Westend Häuser besetzten und glaubten, bei alledem ein „richtiges Leben im falschen“ zu führen. Sie taten dies, wie Joschka Fischer heute betont, im festen Bewusstsein, aufrechte Revolutionäre zu sein. Folgt man Hannah Arendt, ist das freilich kein gutes Argument, um den damals propagierten Einsatz von Gewalt gegen die Staatsmacht zu rechtfertigen; vor allem dann nicht, wenn längst klar war, dass keine gesellschaftliche Macht ein solches Tun unterstützte.

Wer den Außenminister verteidigen will, ist folglich schlecht beraten, auf seine romantische Revoluzzerillusion zu verweisen. Vielversprechender und vermutlich der Wahrheit näher wäre es, die Motivation seines damaligen Tuns dort zu suchen, wo in den Augen Hannah Arendts der eigentliche Motor der Achtundsechziger lag: im Wunsch, „dem Feind die Maske vom Gesicht zu reißen, die Machenschaften und Manipulationen zu entlarven, die es ihm erlauben, ohne Gewaltmittel zu herrschen“. Selbst eine so souveräne Kritikerin der Gewalt wie Arendt konnte eine „gewalttätige Reaktion auf Heuchelei“ als rational akzeptieren.

Joschka Fischer könnte demnach weit offensiver zu seiner Vergangenheit stehen. Zumindest könnte er mühelos die Banalität des Antiviolentismus seiner politischen Gegner bloßstellen, die nicht zwischen rationaler und irrationaler Gewalt zu unterscheiden wissen – und gerade darin, dass sie alles über einen Kamm scheren, das Problem der Gewalt weit unterbieten.

Man wird heutzutage keinen ernst zu nehmenden Menschen treffen, der sich bereit fände, eine blind wütende Gewalt zu verteidigen. Aber diesen Umstand zu nutzen, um diejenigen zu verketzern, deren Gewaltbereitschaft wenigstens so rational war, dass sie Argumente für sie zu benennen wissen, ist eine perfide Instrumentalisierung dieser moralischen Intuition.

Der ökumenischen „Dekade zur Überwindung der Gewalt“ wird man solches nicht vorwerfen können. Doch unterbietet auch sie das Problem der Gewalt, wenn sie Eindeutigkeit fordert, wo Zwiespältigkeit geboten wäre – zumal dies mit einer gewissen theologischen Unschärfe einhergeht. Die Apokalypse des Johannes jedenfalls lässt keinen Zweifel daran, dass es erst Ströme von Blut regnen wird (Ap. 15.3), bevor das gewaltlose Reich des Herrn kommt. Solange die Menschheit besteht, wird es Gewalt geben – und die höchste Aufgabe, die sich den Menschen stellt, ist es, die Gewalt einzudämmen und ihr durch eine Kultur der Wahrhaftigkeit die Angriffsfläche zu nehmen. Mit dem Antiviolentismus sind wir davon weiter entfernt als 1968. „Die Probleme der Gewalt sind immer noch sehr dunkel.“ (Georges Sorel)

CHRISTOPH QUARCH, 37, promovierter Philosoph, ist Studienleiter beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Er lebt in Fulda

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