Gewaltdarstellung im Journalismus: Die Grenzen des Sehbaren
Explizite Videos haben Debatten über Polizeigewalt und Gewalt gegen Schwarze Menschen ausgelöst. Doch was ist mit der Würde der Opfer?
Erst gab es das Video von Ahmaud Arbery, in dem er von zwei Männern in ihrem Auto gejagt und schließlich erschossen wird. Dann kamen die Bilder von George Floyd, von dessen Festnahme und den Minuten seines Todeskampfes, in denen er noch „I can’t breathe“ und „Mama“ stöhnt, während ein Polizist auf seinem Nacken kniet und andere ihn fixieren. Und seit einigen Tagen sieht man in den sozialen Medien nun die Aufnahme von Jacob Blake aus Kenosha, wie ihm, sich im Schritttempo wegbewegend, sieben Mal von Polizisten aus nächster Nähe in den Rücken geschossen wird.
Das alles sind Fälle aus den USA, und das Rassismusproblem der US-Polizei ist kein neues, zuvor gab es schon Videos von den Festnahmen oder dem Tod von Eric Garner, Tamir Rice, Sandra Bland, Philando Castile – und Dutzende mehr. In Deutschland tauchen derzeit ebenfalls Aufnahmen von Polizeigewalt auf, zuletzt das Video eines 15-Jährigen, der in Düsseldorf von Polizist:innen zu Boden gedrückt wird, einer kniet auf seinem Nacken, ähnlich wie es bei Floyd getan wurde. Auch hier kein ganz neues Phänomen.
Diese Videos sind im Netz zu finden, man muss sie nicht suchen, denn sie werden häufig und fast beiläufig verbreitet. Sie finden einen, weil Freunde, Familie und Leute, denen man auf Twitter folgt, sie teilen. Nachrichtenseiten binden sie in ihre Berichte ein. Manchmal steht eine Content Note vor einem Video – eine Warnung vor dem, was man gleich sehen wird. Oft aber fehlt diese Warnung; und wer in seinem Account das automatische Abspielen von Videos aktiviert hat, sieht vieles ohne aktives Zutun.
Es sind Bilder, die gleichermaßen wichtig und verstörend sind. Bilder, die kaum zu ertragen sind, die aufwühlen und zu Tränen rühren sollten. Und die im Nachgang stets auch Fragen aufwerfen, die über die grundsätzliche Frage, warum eine Tat überhaupt geschehen ist und kann, hinausgehen.
Mit eigenen Augen
Denn während es einerseits beeindruckend ist, welche politische Kraft solche Aufnahmen entfalten können, ist es doch auch angebracht zu thematisieren, welchen Schaden sie unter Umständen anrichten und ob es vertretbar ist, diese Videos zu verbreiten – als Privatperson, aber auch als Nachrichtenmedium. Eine eindeutige Antwort darauf wird es nicht geben, aber es gibt Abwägungen, die man vornehmen kann und sollte.
Für Privatpersonen haben diese Videos den großen Vorteil, dass sie eine niedrigschwellige Möglichkeit bieten, anhaltende Missstände aufzuzeigen und Ereignisse zu belegen. Man ist in der Lage, Dinge mit eigenen Augen zu sehen. Niemand wird heute noch in Frage stellen, ob ein Polizist auf George Floyds Nacken kniete, während ein Passant ihn darauf hinwies, dass er ihn gerade umbringt.
Die Reichweite, die diese Aufnahmen zudem in sozialen Medien bekommen können, ist enorm, zuletzt gut erkennbar durch die von Floyds Tod ausgelösten, weltweiten „Black Lives Matter“-Proteste. Diese Aufnahmen sind ein Weg, um die Politik zum Handeln zu zwingen, um Konsequenzen einzufordern, die in anderen Fällen ohne bildliche Aufnahmen unter Umständen viel schwerer zu erreichen sind.
Andererseits zeigen Videos immer nur einen Ausschnitt der Realität. Und ein Teil der Diskussion verschiebt sich stets auf die Frage, was nicht zu sehen war, was davor und danach passiert. Das kann man ohne weitere Aufnahmen nicht wissen. Und dann stellen sich weitere Fragen: Was muss im Vorfeld passiert sein, um eine Tat zu rechtfertigen? Brauchen wir noch mehr dieser Videos? Wer braucht sie? Bei welchen Ereignissen wollen wir wissen, was vorher geschehen ist und bei welchen nicht? Wie viele Kameraperspektiven werden verlangt, um zu glauben, was man sieht?
Was ist mit sexualisierter Gewalt?
Während diese Videos an sich wertvoll sein können, als Beleg dafür, dass etwas passiert ist, stellt sich bei ihrer Verbreitung die Frage, ob diese nicht noch mehr Schaden anrichtet. Denn diese Bilder sind für viele Menschen traumatisierend. Für Schwarze Menschen und People of Color (BPoC) ist es psychisch belastend, überall Videos davon zu sehen, wie Personen, die ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre Kinder oder sie selbst sein könnten, brutal gejagt und ermordet werden. Das kann psychische Beschwerden hervorrufen oder verstärken. Man würde Frauen auch nicht zumuten wollen, sich in sozialen Medien explizite Aufnahmen sexualisierter Gewalt anzusehen. Wieso mutet man es BpoC zu?
Insgesamt kann es für eine Gesellschaft nur ungesund sein, derart grausame Bilder im derzeitigen Umfang zu konsumieren. Und gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit: Ist tatsächlich ein derart brutales Video nötig, damit Menschen anfangen, sich für diese Vorgänge zu interessieren? Und entwickelt sich daraus eine Art Teufelskreis: Man glaubt Brutalität nur noch, wenn man sie auf Videos gesehen hat?
Wer so ein Video teilt, will meist schlicht sagen: „Sieh her, was hier Schlimmes passiert“ – und das ist im Grunde durchaus nachzuvollziehen. Aber jeder Einzelne sollte sich fragen, ob das der richtige und einzige Weg ist, um die nötige Aufmerksamkeit zu erreichen. Ob es nicht andere Möglichkeiten gibt – Initiativen, die man teilen kann, Berichte ohne bebilderte Gewaltdarstellung, Spendenaufrufe, politische Forderungen, die man an zuständige Stellen richten kann. Jeder sollte sich fragen, ob wir noch mehr von diesen Videos brauchen und natürlich, ob man sie auch teilen würde, wenn darauf eine weiße Person gequält und ermordet werden würde.
Die Würde des Opfers
Aus journalistischer Sicht sind darüber hinaus bei der Frage, ob Bilder oder Videos von Gewalt weiter verbreitet werden sollen, auch mehrere medienethische Überlegungen relevant. Einerseits hat Journalismus einen dokumentarischen Anspruch: Er soll zeigen, was geschieht, damit die Öffentlichkeit sich ein Bild darüber machen kann. In diesem Sinne wäre es auch wichtig, Bilder und Bewegtbilder von Gewalt gegen Menschen zu zeigen. Dennoch landen derlei Bilder so gut wie nie ungefiltert in journalistischen Medien. Denn es gibt noch weitere medienethisch relevante Prinzipien.
Zum einen ist da der Schutz des Opfers. Jemanden in einer Situation von Hilflosigkeit oder sogar im Moment des Ablebens zu zeigen, verletzt die Würde dieses Menschen. Der dokumentarische Wert eines solchen Videos oder Bildes ist zwar hoch anzusetzen – da er zum Beispiel als Beweis eines Missstandes dienen kann und das Verbreiten dafür sorgen könnte, dass die gesamte Öffentlichkeit diesen Missstand mitbekommt. Allerdings wird bei dieser Argumentation die Menschenwürde des Opfers zum Nutzen eines „höheren Guts“ funktionalisiert, was ethisch nicht vertretbar ist.
Das Herausfiltern von expliziter Gewalt in journalistischen Darstellungsformen schützt das Publikum. Zwar stellt Journalismus in der Regel ohnehin eher die negativen, niederschmetternden und katastrophalen Seiten der Realität dar, allerdings in der Regel nicht unmittelbar, sondern moderiert. Durch Umschreibung, Einfassung in Formate und gegebenenfalls angekündigt, so dass sich das Publikum auf das einstellen kann, was kommt.
Menschen in Newsrooms
Eine ungefilterte Wiedergabe von gewaltvollen Bildern am Anfang eines TV-Beitrags oder als Webvideo, das sich von alleine abspielt, wäre übergriffig gegenüber den Zuschauenden. Im Fall des Handyvideos aus Kenosha, das zeigt, wie Einsatzkräfte mehrere Schüsse auf den unbewaffneten Jacob Blake abfeuern, haben sich einige Medien für einen Zwischenweg entschieden: Sie spielten das Video bis kurz vor dem Moment der Schüsse ab, hielten dann das Bild an und ließen nur das Audio weiterlaufen. Auf diese Weise wurde die Situation, nämlich dass Blake unbewaffnet und nicht aggressiv war, klar, der Moment der Schüsse wurde allerdings nicht zulasten des Opfers bildlich dargestellt, sondern in beschreibenden Worten zusammengefasst.
Um Entscheidungen treffen zu können, welche Bilder ans Publikum weitergereicht werden, müssen Journalist*innen das Bildmaterial zuerst vollständig sichten. Für Menschen, die in Newsrooms arbeiten, ergibt sich daraus die Situation, dass sie sehr oft mit verstörendem Bildmaterial konfrontiert sind. Über die Frage, wie viel solchen Materials einzelnen Journalist*innen als Teil ihres Jobs zugemutet werden kann und sollte, wird bisher leider zu wenig debattiert. Auch wenn das Konsumieren von Gewaltvideos im journalistischen Arbeitsalltag unvermeidbar ist, sollte also beachtet werden, dass auch die Nachrichtenredakteur*innen zu schützen sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend