Gewalt gegen Frauen in Italien: Betroffene wird zur Angeklagten
Ein prominenter Prozess in Italien zeigt: Eine EU-Richtlinie, die Vergewaltigung als Sex ohne Konsens definiert, hätte Opfern helfen können.
Vier junge Männer müssen sich in dem Fall wegen Gruppenvergewaltigung verantworten. Der seit nunmehr fast zwei Jahren laufende Prozess erhält in Italien maximale Aufmerksamkeit, weil Ciro Grillo mit auf der Anklagebank sitzt. Er ist der Sohn von Beppe Grillo, dem bekannten Comedian und Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung, die in den letzten zehn Jahren die italienische Politik aufmischte.
Grillo junior soll im Sommer 2019 die damals 19-Jährige, die alle italienischen Medien mit dem Alias-Namen „Silvia“ bezeichnen, und eine Freundin von ihr nach einem Disko-Besuch auf Sardinien in die Ferienvilla seiner Eltern mitgenommen haben. Dort seien, so Silvias spätere Aussagen, erst einer seiner Freunde, dann auch Ciro und die beiden anderen Männer über sie hergefallen und hätten sie wiederholt zum Geschlechtsverkehr gezwungen.
Doch immer wieder scheint es im Prozess, als säßen nicht sie, sondern das Mädchen auf der Anklagebank. So will eine Verteidigerin wissen, warum sie beim Oralsex zwecks Abwehr nicht einfach ins Glied des Täters gebissen habe. Von „sekundärer Viktimisierung“ spricht deshalb Silvias Anwältin. Damit meint sie, dass die junge Frau im Prozess erneut zum Opfer wird.
Prozesse verlaufen alle gleich
Immer noch, wie schon vor Jahrzehnten, laufen Vergewaltigungsprozesse in Italien so: Das Opfer hat nachzuweisen, dass es aktiv Widerstand geleistet hat. Deshalb sind alle Fragen erlaubt, schließlich gehe es darum, „das Geschehen zu rekonstruieren“, wie jetzt eine der Verteidiger*innen der vier Angeklagten erklärte.
Zur Verteidigungsstrategie gehört deshalb auch, insgesamt das Sexualleben des Opfers auf den Prüfstand zu bringen. So wurden noch im Jahr 2015 in Florenz sechs junge Männer vom Vorwurf der Gruppenvergewaltigung freigesprochen, weil das mangelnde Einverständnis ihres 16-jähriges Opfers, zum Zeitpunkt der Tat betrunken, für sie nicht erkennbar gewesen sei – und weil sie im Vorfeld mit allzu freizügigem Gebaren aufgefallen sei.
Eine EU-Richtlinie, die Vergewaltigung als Sex ohne Konsens definiert, würde auch Prozesse wie gegen Grillo junior für Opfer erträglicher machen. Und würde womöglich zu weniger Freisprüchen, wie in dem Florenzer Fall, führen.
Italiens Zeitungen und TV-Nachrichten berichten in der Regel recht breit über Gewalt gegen Frauen, Femizide sowie über Vergewaltigungen. Deshalb erhält auch der Prozess gegen Ciro Grillo und seine drei Freunde so viel mediale Aufmerksamkeit. Bisher kam jedoch wenig Diskussion darüber in Gang, wie das Einverständnis von Frauen in sexuellen Beziehungen vor Gericht zu bewerten ist.
Nur die Nichtregierungsorganisation „Differenza donna“, die weibliche Gewaltopfer unterstützt, meldete sich zu der EU-Vereinbarung zu Wort. Sie startete eine Petition auf „Change.org“, gerichtet an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel, mit dem Ziel, in der geplanten EU-Richtlinie die Definition von Vergewaltigung als Sex ohne Konsens aufrechtzuerhalten. Der Appell wurde auf Italienisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch aufgesetzt – und erhielt bisher 79.000 Unterschriften.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel