Gesundheitspunktesystem für Lebensmittel: Die Ampel im Supermarkt
Mit der Kennzeichnung von Dickmachern wollen Verbraucherschützer gegen Übergewicht angehen. Ernährungspsychologen halten diese Kennzeichnung von Lebensmitten für wirkungslos.
Weit über 80 Prozent der Verbraucher wünschen grüne, rote und gelbe Gesundheitspunkte auf Lebensmitteln - hat eine Emnid-Umfrage gezeigt. Diese sogenannte Ampelkennzeichnung, die bereits in Großbritannien in einigen Supermärkten existiert, wird auch von vielen Experten gelobt: "Eine verbraucherfreundliche Kennzeichnung ist eine wichtige Maßnahme, um Übergewicht und Fehlernährung effektiv zu bekämpfen", meinen etwa die Experten des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen (vzbz). Auch die Deutsche Adipositasgesellschaft (DAG) und die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) fordern eine entsprechende Auszeichnung unserer Esswaren. Demnach würden beispielsweise grüne Punkte vergeben, wenn in einem Produkt maximal 3 Gramm Fett, 1,5 Gramm gesättigte Fettsäuren, 5 Gramm Zucker und 0,3 Gramm Salz pro 100 Gramm stecken. Für ein solches Lebensmittel mit vier grünen Punkten würde "freie Fahrt" gelten. Gelb mahnt zur Vorsicht, während Rot "du darfst nicht" signalisiert.
Allerdings: Unter Fachleuten ist diese Kennzeichnung umstritten. Denn: Gerade hat sich die Ernährungswissenschaft davon verabschiedet, einzelne Stoffe und einzelne Lebensmittel als gesund oder ungesund zu propagieren. Knoblauch, Olivenöl und Wein gelten etwa nur innerhalb einer mediterranen Ernährung als gesund. "Menschen können gesund sein, nicht aber Lebensmittel", so Volker Pudel, Ernährungspsychologe in Göttingen. Speiseöle würden etwa bei der Ampel-Kennzeichnung mit vier roten Punkten versehen, obwohl sie auf einen gesunden Speiseplan gehören.
Auch von der psychologischen Seite wird die Ampel skeptisch gesehen. "Schließlich teilten insbesondere essgestörte Menschen Lebensmittel gerne in sehr gute, also gesunde Schlankmacher, und sehr ungesunde, also ungesunde Dickmacher auf", meint Christoph Klotter, Ernährungspsychologe an der FH Fulda in seinem Buch "Einführung Ernährungspsychologie".
Eine entsprechende verpflichtende Kennzeichnung wäre ein weiterer Schritt in eine essgestörte Gesellschaft. Wie die Ampel auf Bulimiker und Magersüchtige wirkt, ist bislang unbekannt, weil Studien fehlen. Überhaupt ist vollkommen ungeklärt, ob die Deutschen mit dem Ampelsystem dünner würden. "Es ist kein nachhaltiger Effekt zu erwarten", glaubt etwa Pudel. Denn: "Die Menschen wissen, was gesund ist. Was fehlt, ist die Motivation, ungesundes Verhalten zu ändern". Dies könne nur in einer individuellen Ernährungsberatung geschehen, die auch die geschmacklichen Vorlieben des Übergewichtigen berücksichtige.
Eine Studie von Joachim Westenhöfer, Hochschule für angewandte Wissenschaft in Hamburg, bestätigt dies: Das Label "gesund" oder "ungesund" hatte keinen Einfluss auf die Zusammenstellung des Speiseplans der Probanden. "Man kauft, was man mag", so kommentiert Westenhöfer seine Funde.
Zwar wurden in einigen Ländern ähnliche Kennzeichnungssysteme mit Erfolg eingeführt. Beispielsweise existiert eine einfache Symbolkennzeichnung von Lebensmitteln seit vielen Jahren in den ICA-Supermärkten in Schweden. Eine unabhängige Wissenschaftlergruppe hat die Kriterien dafür festgelegt. Für die ausgezeichneten Lebensmittel hat ICA Umsatzzuwächse im zweistelligen Bereich verzeichnet. "Aber Schweden hat ein größeres Übergewichtsproblem als wir", so Erik Harms, Kinderarzt in Münster.
In Großbritannien wurde das Ampelsystem ab Januar 2007 von der Food Standard Agency zunächst freiwillig eingeführt. 50 Prozent der Käufer griffen in Sainsburys-Supermärkten nach der Einführung der Kennzeichnung zu Fertigprodukten mit mehr grünen Punkten. Auch bei Tesco kauften die Kunden gesündere Produkte - zumindest anfangs. Inzwischen hat der Umsatz bei den fettreichen Lebensmitteln wieder zugenommen.
"Vermutlich gibt es zwei völlig unterschiedliche Verbrauchergruppen: Die einen wählen ihre Lebensmittel unabhängig von der Nährwertkennzeichnung nach ihrem Geschmack aus", so Michael Gusko von der Firma Kampffmeyer Food Innovation.
Möglicherweise steigert eine Negativinformation sogar die Attraktivität von Lebensmitteln. Kinder essen mehr von "roten" Snacks, wenn sie vorher erfahren haben, dass sie diese Produkte nicht essen sollen, hat eine niederländische Studie aus dem Jahre 2007 belegt. "Mich stören die bunten Aufkleber nicht, so finde ich schneller die leckeren süßen Sachen", liest man denn auch in einem Leserkommentar bei Zeit online.
Bei sozial schwachen Familien kommt Übergewicht überproportional häufig vor - diese Zielgruppe müsste man also besonders ansprechen. Klotter glaubt indes: "Von dieser Gruppe werden gesellschaftliche Normen wie auch die Ampelkennzeichnung als Ge- und Verbote wahrgenommen, die genüsslich überschritten werden. Das Verbot produziert quasi die Übertretung." Zudem wählten die unteren sozialen Schichten sättigende Lebensmittel, also Fettes und Süßes. Obst und Gemüse seien dagegen vergleichsweise teuer. Auch das steht dem Erfolg des Ampelsystems entgegen.
Doch die Kennzeichnung nach dem Vorbild Großbritanniens bringt auch noch andere Probleme mit sich: Die Nährwertangaben werden zu einer bislang nicht klar definierten Portion und zum Tagesenergieverbrauch von Frauen, nämlich zu 2.000 kcal in Bezug gesetzt. Für Männer, Kinder, Senioren, Sportler und auch andere Gruppen sind diese Signale irrelevant.
Noch ein Problem: Es geht nur um verpackte Lebensmittel. Grundnahrungsmittel wie loses Obst und Gemüse, Brot und Wasser bekämen keine Punkte, monieren Ernährungsberater.
Niemand weiß genau, welche Politik übergewichtige Nationen verschlankt. Fest steht aber: Übergewicht ist ein komplexes Problem, das komplexe Lösungen erfordert. So wirbt derweil die DAG dafür, dass alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Beitrag leisten müssten. Die Industrie könnte beispielsweise Zutaten verbessern, weniger Werbung für Kalorienreiches schalten und eben eine verständliche Kennzeichnung auf Produkte drucken. "Lebensmittelkennzeichnung ist gut. Sie "gehört deshalb grundsätzlich von allen Experten unterstützt", mahnen die DAG-Wissenschaftler.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid