Gesundheit: Mehr Sammelstellen für Muttermilch
Frauen können jetzt in jedem Bundesland ihre überschüssige Milch abgeben und an Frühgeborene spenden. Die Geschichte einer Wiederentdeckung.
Dass ein Baby auch mit Milch groß werden kann, die nicht von seiner Mutter stammt, wissen Menschen schon seit der Antike. Ammen retteten nicht nur das Leben zahlreicher Neugeborenen, deren Mütter ihre Geburt nicht überlebten oder zu krank waren, um Milch zu produzieren. Sie zu beschäftigen galt auch als Statussymbol der Schönen und Reichen, denn Stillen galt lange Zeit als unschicklich. Mit der Entwicklung von Fertignahrung für Säuglinge – erst in flüssiger Form, dann als Pulver, später als Ersatzmilch – verschwand der Beruf der Amme nach und nach; das Stillen war aus der Mode.
Doch auch das hat sich wieder geändert: Die WHO empfiehlt seit Jahren, Babys bis zu sechs Monaten voll zu stillen. Zwar können Säuglinge heutzutage mit anderen Präparaten ernährt werden und müssen nicht, wie früher, um ihr Leben fürchten, wenn ihre Mütter nicht stillen können oder wollen. Zahlreiche Studien zeigen jedoch, dass Muttermilch besonders gut gegen Infektionen schützt und Antikörper enthält, die sich künstlich nicht nachbauen lassen.
Gerade Frühgeborene und kranke Säuglinge, deren Mütter aus den unterschiedlichsten Gründen nicht genug Milch produzieren können, profitieren deshalb von der Milchspende anderer Frauen. Diese Spenderinnenmilch wird von Frauenmilchbanken gesammelt. Deutschlandweit gibt es mittlerweile mehr als fünfzig solcher Sammelstellen, die an Kliniken angeschlossen sind. Dort können Frauen, die mehr Muttermilch haben als ihr Baby braucht, ihre Spende abgeben. Das kostbare Gut wird dann im Labor untersucht und an bedürftige Säuglinge verteilt.
Alle Milchbanken in der BRD geschlossen
Die erste offizielle Sammelstelle Deutschlands gründete die Kinderärztin Marie-Elise Kayser im Jahr 1919 im Krankenhaus Magdeburg-Altstadt. Die Idee, Säuglinge mit gespendeter Milch zu ernähren, gab es schon, Kayser warb allerdings auch außerhalb von Kliniken um Spendemilch. Darüber hinaus gelang es ihr, sie zu pasteurisieren und damit über längere Zeit haltbar zu machen. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diese Idee wieder aufgegriffen, es folgten viele weitere solcher Sammelstellen.
Ab den Sechzigerjahren wurden diese Frauenmilchbanken jedoch nach und nach wieder geschlossen, in der BRD gab es Ende der 1970er Jahre keine einzige Sammelstelle mehr. Das lag zum einen daran, dass Industriemilchprodukte immer besser wurden und Werbekampagnen der Babynahrungsindustrie eine starke finanzielle Unterstützung erhielten. In den 1980er Jahren sprachen sich viele Kinderärzt:innen dann wieder deutlicher für die gesundheitlichen Vorteile des Stillens aus. In der damaligen DDR blieben einige Muttermilchbanken erhalten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Erst 2012 wurde in Westdeutschland die erste Sammelstelle wiedereröffnet: die Frauenmilchbank am Perinatalzentrum München-Harlaching kümmert sich um die Versorgung von Frühgeborenen und kranken Neugeborenen auf Station. Die Muttermilch kommt hier ausschließlich von internen Spenderinnen, also von Müttern, die sich auch in der Klinik aufhalten.
Große Kliniken, wie die Universitätskliniken in Leipzig und Freiburg, nehmen auch externe Spenden an, die sie bei Bedarf sogar bei den milchgebenden Müttern abholen. Diese frieren die abgepumpte Milch daheim ein, anschließend wird sie in der Klinik analysiert und, falls alle Kritierien stimmen, pasteurisiert und an Bedürftige verteilt. Eines der Kriterien ist etwa, dass die gespendete Muttermilch frei von Bakterien sein muss.
In Deutschland gibt es über 200 Perinatalzentren, die Frühgeborene behandeln. Die Milchbanken versorgen oft nicht nur die Klinik, an der sie angesiedelt sind, sondern auch weitere Säuglingsstationen im Umkreis. Die Charité in Berlin gibt beispielsweise an alle Kliniken der Stadt bei Bedarf überschüssige Muttermilch ab. Dennoch sei eine flächendeckende Versorgung von Säuglingen noch nicht gewährleistet, so Ulrike Sturm-Hentschel von der Frauenmilchbank-Initiative.
Die Frauenmilchbank-Initiative gibt es seit 2018 und besteht aus Kinderärzt:innen, Klinikpersonal, Wissenschaftler:innen und Eltern. Sie alle setzen sich dafür ein, dass bedürftige Frühgeborene einen sicheren Zugang zu Milch aus Frauenmilchbanken haben. „Das ist unser oberstes Ziel“, sagt Sturm-Hentschel. Seit ihrer Gründung lässt sich ein beachtlicher Aufschwung an Sammelstellen verzeichnen. Fast 30 solcher Milchbanken wurden in den vergangenen sechs Jahren gegründet.
Mit der Eröffnung einer Spendemilchbank in Mainz hat die Initiative im Juli – mit etwas Verspätung – ihre 2018 gestellte Forderung erreicht: Jedes Bundesland sollte bis 2023 mindestens eine Sammelstelle haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?