Gesundheit ist kein Verdienst: Die Lagerfeld-Lüge

Als Mutter zweier pflegebedürftiger Kinder weiß ich, dass sich das Leben nicht kontrollieren lässt. Auch wenn manche Leute etwas anderes behaupten.

In einer grauen Jogginghose geht ein Besucher über den Anleger von Schlüttsiel an der Nordsee.

Irre Vorstellung, dass sich das Leben kontrollieren ließe – Jogginghose hin oder her Foto: dpa | Carsten Rehderdpa | Carsten Rehderdpa / Carsten Rehder

Karl Lagerfeld wird mit dem Satz zitiert „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“. Daran muss ich denken, wenn ich um 5.55 Uhr im Wohnzimmer von der Matratze neben dem Pflegebett meiner Tochter aufstehe und mir eine Jogginghose anziehe, um ein Stockwerk höher meinen Sohn Willi aus seinem Pflegebett zu holen und ihn möglichst leise für die Schule fertig zu machen. Seit Olivia krank ist, darf er im Bett frühstücken. Das findet er super. So wie Jogginghosen. Nicht nur, weil sie so gemütlich sind, sondern weil er sie selbstständig an- und ausziehen kann.

Ich gehe davon aus, dass Karl Lagerfeld nie ein schwer krankes oder schwerbehindertes Kind gepflegt hat. Im Prinzip ist es mir völlig egal, was irgendwer über Hosen sagt. Was mich an dem Ausspruch schockiert, ist der Glauben, man könne das Leben kontrollieren.

Mit der Annahme, Schönheit, Wohlstand und natürlich Gesundheit seien Verdienste, für die man nur hart genug arbeiten müsse, kann man wunderbar die Probleme anderer von sich fernhalten. Man erklärt kurzerhand kranke Menschen für selbst verantwortlich.

Und bei Kindern sind wahrscheinlich die Eltern „schuld“. Als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom ist mir oft unterschwellig der Vorwurf gemacht worden, mich selbst für die Behinderung entschieden zu haben. Ich hätte „das“ ja in der Schwangerschaft testen lassen können. Doch schon vor 15 Jahren wusste ich, dass nichts und niemand uns ein unbehindertes oder gesundes Baby garantieren kann. Ich hatte das sichere Gefühl, dass die Abtreibung unseres Wunschkindes sich nicht nur auf meine Partnerschaft, sondern auf mein ganzes weiteres Leben und sogar noch auf das Leben eines weiteren Kindes auswirken würde.

Was zählt ist bedingungslose Liebe

Wie wäre es für unsere Tochter Olivia, wenn sie wüsste, dass ein behindertes Kind für uns nicht in Frage gekommen wäre? Seit sie an Long-Covid erkrankt ist, ist sie körperlich schwerer beeinträchtigt als ihr großer Bruder. Sie ist komplett bettlägerig. Sie kann sich nicht einmal eine Jogginghose selber hochziehen, geschweige denn die Zahnbürste halten. An guten Tagen muss ich sie nicht füttern und sie hat Kraft im Liegen etwas Kleines zu basteln. Das war’s. Sie ist 13.

Wir hätten sehr gerne eine psychologische Begleitung für sie, aber bis jetzt scheinen alle lieber Diagnosen zu verteilen, als ein praktisches Hilfsangebot zu machen. Wenn ich ein Gespräch mit einer Krankenhauspsychologin habe, achte ich übrigens darauf, eine ordentliche Hose zu tragen. Olivia hat ja einen schwerbehinderten Bruder, da muss man so tun, als hätte man etwas Kontrolle übers Leben. Denn die Psycho-Schublade steht bei jeder Familie, die etwas neben der Norm läuft – ob Patchwork, Fluchterfahrung, kranke Eltern oder gleichgeschlechtliche Beziehungen – weit offen.

Dabei könnte man auch auf uns schauen und denken: Wo ein Kind mit einer „vermeidbaren“ Behinderung ist, wird bedingungslose Liebe sein – der wichtigste Baustein für eine gesunde Entwicklung. Olivia ist nicht trotz, sondern wegen ihrer Familie ein so großartiges, soziales und starkes Mädchen. Dass wir alle zurzeit psychisch belastet sind, könnte ja auch an den fünf Monaten schwerer Krankheit ohne Behandlungsperspektive liegen.

Und noch mal zum Thema Kontrolle: Als ich neulich mit Olivia im Krankenhaus war, hat mein Mann Willi in seiner neuen Schlafanzughose in die Schule geschickt. DAS nenne ich Kontrollverlust! Und wissen Sie was: Es hat Willi nicht geschadet!

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Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de

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