Gesundheit beim G20-Gipfel: Die nächste Pandemie
Ohne einen umfassenden, weltweiten Gesundheitsschutz wird es keine gute soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung geben können.
Am Mittag verlässt der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) den streng abgeriegelten Sicherheitsbereich des Berliner Krisenzentrums. Seit dem Vorabend beraten hier die Gesundheitsminister der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) mit Vertretern der Weltbank und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter Hochdruck. Die verheerende, todbringende Seuche, ausgebrochen in Anycountry, einem der ärmsten, krisen- und bürgerkriegsgeschüttelten Länder der Welt, droht sich zur Pandemie auszuweiten.
Tausende Menschen sind bereits auf der Flucht, doch das seit Kurzem grassierende, hoch ansteckende Killervirus, übertragen über die Atemwege, ist schneller als sie. Ein Impfstoff? Wurde nie entwickelt. Medikamente? Wirken nicht. Die lokalen Gesundheitssysteme, unterfinanziert und fragil, sind kollabiert.
Die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln, will sie eine Wiederholung des humanitären Desasters nach dem Ebola-Ausbruch in Westafrika mit 28.000 Erkrankten und 11.000 Toten in den Jahren 2014 und 2015, geprägt von Ignoranz, Inkohärenz und chaotischer Koordination der Hilfsgüter, vermeiden.
Realistische Simulation
Am 7. und 8. Juli treffen sich in Hamburg die Staatschefs der größten Industrie- und Schwellenstaaten zum G20-Gipfel. Die taz berichtet dazu in einem laufend aktualisierten Schwerpunkt und ab dem 1. Juli mit täglich 8 Sonderseiten.
Gröhe tritt vor die Kameras der wartenden Journalisten. Er hält die druckfrische Titelseite der Every Day News in der Hand: „Virus out of control“ steht dort in großen Buchstaben, man sieht verängstigte Menschen mit notdürftigem Mundschutz, die sich in einem Bus drängeln. Weltweit warnen Ärzte davor, dass auch die Gesundheitssysteme der Industriestaaten den Herausforderungen nicht gewachsen sein werden, die Aktienkurse an den Börsen sind bereits in freiem Fall.
„Ich kann Ihnen kein schnelles Happy End versprechen“, bedauert Gröhe. So viel aber könne er zusagen: Die G20-Minister seien sich einig, dass ihr „Verteidigungsbündnis gegen Gesundheitsgefahren“, zu dem auch EU-Notfallgremien, länderspezifische Krisenstäbe und vor allem die WHO gehörten, bei der nächsten Epidemie transparenter, vertrauensvoller und koordinierter vorgehen müsse.
„Und um zu trainieren, wie wir reaktionsfähiger werden und die Gesundheitssysteme überall stärken können, werden wir von jetzt an regelmäßig Ernstfallübungen wie diese durchführen, wie bei der Feuerwehr“, Gröhe klingt erleichtert. Denn noch ist der Ernstfall nicht eingetreten. Noch sind der Ausbruch in Anycountry und die Berichterstattung der Every Day News bloß die Simulation eines Szenarios, das allerdings jederzeit in jedem Land, in any country eben, Wirklichkeit werden könnte.
Die Frage ist nicht, ob die Pandemie kommt
Und dass die G20-Gesundheitsminister deswegen in Berlin bereits Ende Mai, Wochen vor dem eigentlichen G20-Gipfel im Juli in Hamburg, in kleiner Runde geprobt haben.Aus gutem Grund: „Die Frage ist nicht, ob die nächste Pandemie kommt, sondern welcher Erreger sie auslösen wird“, warnte die scheidende WHO-Direktorin Margret Chan bei dem Treffen in Berlin und ermahnte die G20-Gesundheitsminister: „Wer sich um die Gesundheit nicht kümmert, dessen wirtschaftliche Entwicklung wird rückläufig sein.“
Die Ziele, die die G20-Fachminister im Mai in ihrer „Berliner Erklärung“ formulierten, sollen jetzt im Juli in die Beratungen der G20-Staatschefs in Hamburg einfließen. Als gesetzt gilt, dass die über Jahre von der internationalen Staatengemeinschaft erbarmungslos kaputtgesparte WHO finanziell und personell gestärkt wird. Derzeit umfasst das 2-Jahres-Budget der WHO gerade noch knapp 4 Milliarden Euro, bei 194 Mitgliedstaaten.
Zum Vergleich: Das Stiftungskapital der Gates-Stiftung, der größten Privatstiftung der Welt, die sich für globale Entwicklung, Gesundheit und Bildung einsetzt, liegt bei knapp 43 Milliarden Dollar.
Fester Bestandteil der Tagesordnung
Das Thema globale Gesundheit soll fester Bestandteil der Tagesordnung der G20 werden, ein Novum. Dahinter stecken die Überzeugung und vor allem die Angst, dass es ohne einen umfassenden, weltweiten Gesundheitsschutz keine gute soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung geben kann.
Inhaltlich geht es um drei große Baustellen: erstens das internationale Krisenmanagement im Fall einer Epidemie und damit verbunden ein besserer Schutz vor ansteckenden Krankheiten, etwa durch Entwicklung neuer Impfstoffe. Zweitens der Kampf gegen wachsende Antibiotika-Resistenzen durch verbesserte Hygiene, sparsameren Einsatz der Mittel in der Human- und Veterinärmedizin und die Erforschung neuer Antibiotika. Und drittens die Stärkung nationaler Gesundheitssysteme auch solcher Staaten, die dazu aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, etwa durch finanzielle Hilfen, die Abgabe bezahlbarer Arzneimittel oder einen erleichterten Zugang zu Versorgungsstrukturen.
Bei der Bekämpfung multiresistenter Keime sind die Gesundheitsminister einen entscheidenden Schritt vorangekommen: Sie sind sich einig, dass es eine weltweite Verschreibungspflicht für Antibiotika geben muss, um den teils inflationären, unkontrollierten und unsachgemäßen Einsatz, der Resistenzen begünstigt, zu reduzieren.
Globaler Aktionsplan
Außerdem verpflichten sie sich, bis Ende 2018 nationale Aktionspläne zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen umzusetzen nach dem Vorbild des „Globalen Aktionsplans“, den die WHO mit der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) und der Weltorganisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) 2015 entwickelt hat.
Auch wollen sich die G20-Gesundheitsexperten in der Frage des Antibiotikaeinsatzes künftig enger mit ihren Ministerkollegen aus den Agrarressorts abstimmen. Der Pharmaindustrie wollen die Staaten Anreize setzen, damit diese nicht nur nach neuen, wirksamen Antibiotika für den sofortigen Einsatz forscht, sondern auch nach solchen, die nach erfolgreicher Entwicklung gar nicht auf den regulären Markt kommen, sondern als Notfall-Medikamente, als letzte Reserve sozusagen, zurückgehalten werden sollen.
Als Instrument zur Förderung dieser Notfall-Antibiotika, aber auch von Impfstoffen ohne kommerzielles Potenzial, Impfstoffen also, die rein vorsorglich erforscht werden für den Einsatz bei möglicherweise auftretenden Epidemien zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft, setzen die G20 verstärkt auf öffentlich-private Entwicklungspartnerschaften.
Allianzen gegen Epidemien
Jüngstes Beispiel hierfür ist die erst im Januar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos mit einem Startkapital von gut 500 Millionen Euro gegründete Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (Cepi). Cepi ist eine weltweite Allianz in öffentlich-privater Partnerschaft zwischen Regierungen, der WHO, der EU-Kommission, Forschungseinrichtungen, Impfstoffherstellern und privaten Geldgebern wie der Gates-Stiftung und soll Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten mit hohem Ansteckungspotenzial für den sogenannten emergency use entwickeln helfen.
„Unser Ziel ist“, sagt der Cepi-Gesundheitsexperte Ralf Clemens, „bis 2021 Impfstoffe gegen Mers, Lassa und das Nipah-Virus so weit voranzubringen, dass sie bei einem Ausbruch als Notfall-Impfstoff eingesetzt werden können“. Die drei Erreger entstammen der 2016 veröffentlichten WHO-Liste mit insgesamt elf hochgefährlichen Keimen, die in naher Zukunft schwere weltweite Epidemien auslösen könnten und gegen die es keine Therapie gibt.
Der Anspruch ist immens: Klassische Impfstoffe zu entwickeln dauert durchschnittlich zehn bis zwölf Jahre. Cepi dagegen setzt auf neue Technologien, unter anderem aus dem Bereich der Genforschung. Die Firma CureVac mit Sitz in Tübingen etwa erhofft sich einen Durchbruch im Kampf gegen Infektionskrankheiten mit Impfstoffen auf Basis von messenger RNA, das sind Botenmoleküle, die im Organismus eine Information von einem Ort an einen anderen übertragen können und rasant schnell herstellbar sind.
Politische Verbindlichkeiten
„Wenn die Erregersequenz bekannt ist, können wir derzeit binnen sieben Wochen 10.000 Impfstoffdosen produzieren“, sagt Ulrike Gnad-Vogt, Chief Medical Officer der Firma. Das Ziel sei aber – auch dank neuer Produktionsanlagen –, 100 Millionen Dosen in sieben Wochen herstellen zu können.
Hierfür allerdings brauche die Industrie zunächst politische Zusagen, wie der Geschäftsführer des Verbands forschender Arzneimittelhersteller, Siegfried Throm, betont: „Es wird von uns erwartet, dass wir unsere Anlagen stets so am Laufen halten, dass bei einem Outbreak die Produktion schnell starten kann. Die Industrie braucht aber eine zentrale Ansprechstelle, die ihr sagt, wie viele Dosen überhaupt gebraucht werden.“
Manchen Nichtregierungsorganisationen gehen die Vorschläge der G20 indes nicht weit genug. Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt, etwa hält die geplante Aufstockung der Mittel für die WHO für unzureichend: „Die Bundesrepublik sollte mindestens 0,1 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens in globale Gesundheit investieren.“ Im Zentrum der Überlegungen der Staaten dürften zudem nicht bloß die Interessen einzelner Industrienationen, sondern müsse vor allem die Gesundheitsversorgung von Millionen Menschen in ärmeren Ländern stehen.
Ein exklusiver Club
Doch um diese Menschen gehe es nur nachrangig, befürchtet auch Thomas Gebauer, Geschäftsführer von medico international: „G20 ist ein exklusiver, nicht demokratisch legitimierter Club, auf dessen Tagesordnung nicht die Marktradikalität steht, sondern nur, wie ihren Folgen oberflächlich begegnet werden kann.“ Der Sicherheitsbegriff, den die G20-Minister bemühten, müsse sich an der Absicherung von Gesundheitsinteressen der Bevölkerung orientieren, fordert Gebauer, und nicht an der Abschottung der Industrienationen vor drohenden Gesundheitsgefahren.
Ähnlich argumentiert Anne Roemer-Mahler, Dozentin für internationale Beziehungen an der Uni Sussex: „Die Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen ist ein biomedizinisches Verständnis von Gesundheit und auch eine biomedizinische Lösung. Sie hat nichts mit den sozialen Ursachen zu tun.“
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