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Gestoppte Abschiebung nach RuandaFlieger bleiben am Boden

Flüchtlinge in Großbritannien werden nun doch nicht nach Ruanda ausgeflogen, um dort Asyl zu beantragen. Straßburg stoppte das Vorhaben kurz vorher.

Aki­vis­t*in­nen protestieren gegen die Abschiebung Foto: Henry Nicholls/reuters

London taz | Das Vorzeigeprojekt der konservativen britischen Regierung, Schutzsuchende von der illegalen Einreise nach Großbritannien abzuhalten, ist vorerst geplatzt. Ein Pilotflug, der Asylsuchende in der Nacht zu Mittwoch aus London nach Ruanda bringen sollte, damit ihre Asylanträge dort statt im und fürs Vereinigte Königreich bearbeitet werden, wurde abgesagt. Am Dienstagabend hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Eilverfahren geurteilt, die Betroffenen dürften in Großbritannien bleiben. Zuvor hatten mehrere britische Rechtsinstanzen, zuletzt das Oberste Gericht in London, die Abschiebungen gebilligt.

Konkret verhandelte der EGMR in Straßburg, die juristische Instanz des Europarats, den Antrag eines 54-jährigen irakischen Kurden gegen seine Abschiebung nach Ruanda. Der EGMR urteilte, dass seine Sicherheit und Rechte – er besitzt ein Gutachten eines britischen Arztes, der vermutete, dass der Iraker Folteropfer war – nicht gewährleistet seien. Der Mann hatte den Ärmelkanal auf einem kleinen Schlauchboot aus Frankreich überquert und vor einem Monat in Großbritannien Asyl beantragt.

Der EGMR äußerte sich in seiner Entscheidung darüber besorgt, dass Asylbewerber:innen, die aus dem Vereinigten Königreich nach Ruanda abgeschoben werden, „keinen ausreichenden Zugang zu fairen und effizienten Maßnahmen für ihre Bewerbung zum Flüchtlingsstatus haben würden“. Im britischen High Court hatten An­wäl­t:in­nen der Abzuschiebenden am Freitag eine richterliche Prüfung des Ruanda-Abschiebeprogramms erzwungen, welche Ende Juli beginnen soll. Dennoch urteilten sämtliche britische Instanzen, dass die Personen in Ruanda zumindest bis Ende Juli sicher seien, da Großbritannien garantiert habe, sie notfalls wieder zurückzubringen.

Das EGMR sieht das anders: Ruanda stehe außerhalb des Gültigkeitsraumes der Europäischen Menschenrechtskonvention, sodass keine rechtlich vollstreckbaren Mechanismen bestünden, eine Rückkehr aus Ruanda ins Vereinigte Königreich zu garantieren, sollte das Programm für rechtswidrig erklärt werden. Aus diesem Grund sei die Abschiebung nach Ruanda bis drei Wochen nach dem noch ausstehenden Urteil über das Abschiebeprogramm zu verschieben, und zwar nicht nur im Fall des Irakers. Das EGMR-Urteil ließ dem englischen Berufungsgericht keine andere Wahl, als den Personen, die am Dienstagabend ausgeflogen werden sollten, den weiteren Aufenthalt in Großbritannien bis zum Ende der richterlichen Prüfung zu gewähren.

Es wären wenige gewesen, die einsteigen sollten

Es waren ohnehin nur noch wenige gewesen, die ins Flugzeug hätten steigen sollen. Ursprünglich hatte die britische Regierung 130 Personen zur Abschiebung ausgewählt, alles Männer oder Jungen. Als es soweit war, standen noch 39 auf der Liste. Nach weiteren erfolgreichen Einsprüchen blieben am Ende ganze sieben Personen übrig. Laut unbestätigten Angaben liegen die Kosten für allein den gestrigen abgesagten Flug bei umgerechnet 574.000 Euro.

Bei einigen der 130 war eine Zukunft in Ruanda in Frage gestellt worden, weil sie der LGBTQIA+Community angehören. Bei anderen gab es Fragen, ob sie noch als Kinder gelten. Viele leiden an psychischen Problemen, nicht zuletzt aufgrund von Folter. Die britische Zeitung The Independent berichtete von einem iranischen Demokratieaktivisten, der auf der Flucht in der Türkei von Menschenhändlern gefoltert worden sei, die Videos davon an seine Familie geschickt hätten.

Viele überquerten den Ärmelkanal im Mai – auf diesem Weg sind im vergangenen Jahr über 28.000 Menschen aus Frankreich illegal nach Großbritannien gelangt, wo sie ins Asylverfahren aufgenommen wurden; dieses Jahr sind es bereits knapp 5.000 Personen.

Die letzten sieben, deren Abschiebung erst am Dienstag gestoppt wurde, kamen aus Irak, Iran, Albanien und Vietnam. Einer ist ein kurdischer Iraner, dessen Schwester seit 2010 in Großbritannien lebt und der allein damit vor Abschiebung geschützt sein müsste. Der Albaner ist laut Guardian 26 Jahre alt, wurde von Menschenhändlern sechs Monate lang verschleppt und erwog nach eigenen Angaben jetzt Suizid. Ein Iraner gab an, dass man im Iran seinen Cousin umgebracht hätte und seinen Onkel viele Jahre lang inhaftiert und gefoltert habe.

Patel gab sich kämpferisch

Das mit knapp 150 Millionen Euro dotierte Abschiebeprogramm namens „Einwanderungs- und wirtschaftliche Entwicklungspartnerschaft“ (MEDP) wurde im April zwischen dem Vereinigten Königreich und Ruanda für eine Laufzeit von fünf Jahren unterzeichnet. Abgeschobene Personen dürfen demnach in Ruanda Asyl beantragen. Laut Innenministerium soll das Abkommen Menschen von „gefährlichen Überquerungen in kleinen Booten über den Ärmelkanal in das Vereinigte Königreich abschrecken“. Die meisten dieser Menschen seien auf dem Weg nach Großbritannien durch sichere Länder gereist, wo sie hätten Asyl beantragen können, wiederholte die britische Innenministerin Priti Patel am Mittwoch vor dem Parlament.

Patel gab sich nach dem vorläufigen Scheitern ihres Ruanda-Projekts, das sie persönlich im April in Kigali verkündete hatte, kämpferisch. Das Programm sei einmalig und man werde die Flüge nun eben umbuchen. Die jetzt nicht Ausgeflogenen müssten nun elek­tronische Fußfesseln tragen. Arbeitsministerin Thérèse Coffey sagte, dass man vor dem EGMR Berufung einlegen werde.

Doch die Ruanda-Pläne hatten breite Kritik hervorgerufen, nicht nur bei Flüchtlingshilfsgruppen. Die innenpolitische Sprecherin der Labour-Opposition, Yvette Cooper, nannte die Maßnahmen chaotisch und schändlich. Am Dienstag hatten alle Bischöfe der anglikanischen Kirche die Pläne als unmoralisch kritisiert. Auch Thronfolger Prinz Charles, der sich eigentlich neutral zu halten hat, soll sich privat gegen die Pläne ausgesprochen haben. Er soll kommende Woche nach Ruanda reisen, wo erstmals ein Gipfel des von Großbritannien geführten Commonwealth-Staatenbundes stattfindet.

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