Gesichtserkennung: Sie rechnen das Lächeln heraus
Wunder der Moderne oder martialische Überwachungstechnik? Ohne Kontext ist Technik weder gut noch böse. Vier Blicke auf Aspekte von Gesichtserkennung.
Technik ist praktisch. Gesichter merken? Das war früher
"Das ist die Demokratisierung von Prominenz", jubelt Web-2.0-Pionier Tim OReilly im Interview mit Moritz Metz von Deutschlandradio Breitband. OReilly hat Gesichtserkennung schon praktisch ausprobiert und zeigt sich glücklich darüber, dass er "das noch erleben darf".
OReilly war es, der den Begriff "Web 2.0" prägte. Mit Web 2.0 ist das "soziale Schreib-Lese-Internet für alle" gemeint, Blogs, Wikis, Soziale Netzwerke wie Facebook oder der Microbloggingdienst Twitter. Anwendungen für Gesichtserkennung finden sich eher im Web 3.0: dem Internet zum Mitnehmen auf dem Smartphone.
Wenn man sich die Offline-Welt mithilfe von Technik mit Zusatzinformationen anreichert, nennt man das "Augmented Reality". Schon heute ist es mit manchen Handys zum Beispiel möglich, sich orten und anzeigen zu lassen, welche Plätze - Restaurants, Parks, Treffpunkte - sich rund um den eigenen Standpunkt befinden.
Dieser Artikel ist auch Ergebnis eines "Crowdsourcing"-Prozesses. Kluge Menschen aus dem Netz haben Informationen in einem Wiki zusammengetragen. Danke dafür!
Gesichtserkennung würde diesen Aspekt um - nennen wir es - Augmented Society erweitern: Zusatzinformationen über die Menschen, die sich in der Umgebung befinden, anzeigen, zum Beispiel Social-Network-Profile der betreffenden Person - Nie wieder peinliche Situationen wegen vergessener Namen - wer schlecht Namen und Gesichter verknüpfen kann, dem würde mobile Gesichtserkennung das Leben verschönern. JUS
Wir bemerken Besonderes, Computer lieben den Durchschnitt
Typisch an Gesichtern: Sie sind im Grundsatz oval und spiegelsymmetrisch. Menschen erkennen auch übers Hören und Berühren, über den Geruch - und die Mimik. Menschen erkennen andere Menschen an der Stimme und am Kleidungsstil. Der Speicherplatz im Gehirn ist allerdings limitiert.
Kinder lernen sehr früh, das Muster "Gesicht" zu erkennen. Erwachsene können hunderte unterschiedliche Gesichter erkennen und unterscheiden und erkennen Schulfreunde auch nach Jahren noch zuverlässig.
Bei der Gesichtswahrnehmung kommt es aufs Teil und aufs Ganze an. Ein Blick kann die Größe und die Form von Augen zielen - oder auf das Verhältnis zueinander und ihre Lage im Gesicht. Was wichtiger ist, hängt von der Auffälligkeit ab: Stechen große Ohren oder ein Sehfehler ins Auge, so bleiben sie eher in Erinnerung. Die Nase wird generell besonders stark wahrgenommen.
Doch auch die Gesamterscheinung ist wichtig: Stehen zwei gleiche Bilder von Gesichtern auf dem Kopf, so sind sie kaum noch zu unterscheiden, selbst wenn das eine an Mund und Nase verfremdet ist - Experiment "Thatcher-Illusion".
Attraktive Menschen bleiben besser in Erinnerung. Von der Norm abweichende Gesichter werden von Menschen besser erkannt - Computern hingegen fällt es leichter, Durchschnittliches abzugleichen. JUS
Heute ist es möglich, mehr als 99 Prozent der Gesichter zu erkennen
Augen und Mund erkennt ein Computer mithilfe ihrer Symmetrie, auch erkennt er den Rand des Gesichts. Mittels mathematischer Verfahren werden die Gesichtsdaten korreliert, transformiert und in schlanken Formaten abgespeichert. Diese Daten werden mit Beispielgesichtern unterschiedlicher Merkmale (Hautfarbe, Geschlecht) verglichen. Mit einem solchen Verfahren lassen sich auch Emotionen erkennen. Je mehr Merkmale, desto feiner die Methode.
So schaffen es die Computer inzwischen, mehr als 99 von 100 Personen richtig zu erkennen. Das ist so genau wie die Fingerabdruckbehandlung der Kripo und besser, als ein durchschnittlicher Mensch Gesichter erkennt. Das US-Institut "Nist" führt regelmäßig Wettbewerbe durch, bei dem die neuesten Prototypen getestet werden. Diese verarbeiten immer mehr Pixel pro Gesicht.
Bis Mitte der Nullerjahre wurden die Gesichter in der Praxis zweidimensional vermessen, also von vorne. Das machte die Verfahren anfällig für Grimassen und verschattete Bilder. War das Gesicht mehr als 20 Grad relativ zur Kameraoptik verdreht, sank die Erkennungsrate dramatisch.
Inzwischen gibt es auch Verfahren, die einen Kopf in 3D erfassen. Sie erkennen Gesichter auch von der Seite. Andere Algorithmen rechnen automatisch die Lichtverhältnisse genauso heraus wie ein Lächeln. RME/JUS
Auch Diktatoren und Kriminelle können Technik nutzen
In Kombination mit einer hohen Kameradichte im umgebenden Raum und mit einem autoritären Staat wird Gesichtserkennung gefährlich: Mit ihr ist es möglich, das Individuum aus der Anonymität der Masse herauszuholen und persönlich zu identifizieren. Das US-Militär hat, so ein Pentagon-Bericht, Daten von mehr als 3 Millionen Afghanen in das seit 2004 existierende "Automated Biometric Identification System" eingespeist.
Würden auch Techniken der Emotionserkennung eingesetzt, wäre dies vergleichbar mit einem Lügendetektor. Deren Einsatz ist ohne Einwilligung der Betroffenen nicht zulässig, stellte der Bundesgerichtshof fest.
Genauso beunruhigend wie eine flächendeckende Überwachung durch den Staat ist die Vorstellung, dass Unternehmen uns in einem kommerzialisierten Web 3.0 je nach Aufenthaltsort persönlich maßgeschneiderte Werbung auftischen. Dass Datensammler unsere Wege aufzeichnen und mit persönlichen Geo-Daten Profit machen.
Die Rahmenbedingungen für den Einsatz von Gesichtserkennung müssen aus diesen Gründen schleunigst diskutiert und gesetzlich reguliert werden, fordern Politiker und Bürgerrechtler. Einspruch ist möglich: So scheiterten die Berliner Verkehrsbetriebe mit ihrem Anliegen, einen Modellversuch zu Gesichtserkennung zu starten, am Veto des Datenschutzbeauftragten. JUS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“