Gesetzesentwurf in Niedersachsen: Erzwungene Solidarität

Niedersachsens Große Koalition will medizinisches Personal zur Pandemiebekämpfung verpflichten können. Das würde Grundrechte einschränken.

Eine Krankenpflegerin zieht sich auf einer Corona-Intensivstation im Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden Einweghandschuhe an.

Arbeit ohne Zwangsverpflichtung: Eine Pflegekraft Anfang April in einem Krankenhaus in Dresden Foto: Sebastian Kahnert/dpa

HAMBURG taz | Pfleger, Ärzte und anderes medizinisches Personal in Niedersachsen könnten bei einer zweiten Welle der Coronapandemie zur Arbeit verpflichtet werden. Das jedenfalls sieht ein Gesetzentwurf vor, den die Koalition aus CDU und SPD in den Landtag eingebracht hat. Demnach soll das Fachministerium anordnen können, dass sich Angehörige der Heil- und Pflegeberufe an der Bekämpfung der Krankheit beteiligen. „Durch die Anordnung können Grundrechte der Freiheit, der Berufsfreiheit, sowie der Eigentumsfreiheit eingeschränkt werden“, heißt es im Gesetzestext. Am Donnerstag soll der Entwurf im Innenausschuss beraten werden.

Auch wenn noch nichts entschieden ist und die Regelung vorerst bis Ende März 2021 gelten soll, ist die Empörung bei den betroffenen Berufsgruppen groß. „Dienstverpflichtungen bei gleichbleibenden Arbeitsbedingungen wird die Kolleg*innen aus dem Beruf treiben“, sagt der Krankenpfleger Dennis Beer aus der Kammerversammlung der Pflegekammer Niedersachsen. Eine solche Regelung wäre ein massiver Eingriff in die Persönlichkeits- und Berufsrechte der Menschen.

„Man kann Solidarität nicht erzwingen“, sagt Martin Wollenberg, Vorsitzender des Landesverbands des Marburger Bund, der Vertretung für angestellte Ärzte. Er fragt sich, warum man Leute zwingen solle in ihren ehemaligen Beruf zurückzukehren, wenn viele dies auch freiwillig tun würden.

Wollenberg hält den Gesetzesentwurf für ein falsches Signal zur falschen Zeit. Die Bereitschaft von pensionierten Ärzten und Studenten sei groß. Wer wirklich helfen wolle, habe sich bereits freiwillig gemeldet. „Die Menschen mit einem Gesetz zur Arbeit zu zwingen empfinden wir als einen Tritt gegen’s Schienbein“, sagt Wollenberg. „Man kann sich auf die solidarischen Fähigkeiten des Menschen verlassen.“ Außerdem müssten auch andere Erfordernisse, zum Beispiel genügend Schutzausrüstung oder Masken, für die zweite Pandemiewelle vorhanden sein.

Martin Wollenberg, Vorsitzender Marburger Bund Niedersachsen

„Die Menschen mit einem Gesetz zur Arbeit zu zwingen empfinden wir als einen Tritt gegen’s Schienbein“

Und auch aus der Opposition kommt Gegenwind. „Eine Arbeitsverpflichtung ist nicht nur unsinnig, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich“, sagt Meta Janssen-Kucz, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen Landtagsfraktion. „Menschen arbeiten schlechter, wenn sie zur Arbeit gezwungen werden.“

Besser sei es, mit einem Freiwilligenregister zu arbeiten und den Arbeitenden mit Vertrauen und Anerkennung entgegen zu kommen. „Die Freiwilligkeit während der ersten Pandemiewelle sollte anerkannt werden“, sagt sie. „Das passt nicht mit einer solchen Verpflichtung für die zweite Pandemiewelle zusammen.“ So könne man nicht mit Menschen umgehen, die in den letzten Monaten so viel geleistet haben. Man müsse an dem Kern des Problems arbeiten, nämlich dem Fachkräftemangel in der Branche, so Janssen-Kucz weiter. Dafür müssen die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung verbessert werden.

Selbst Mitglieder der Koalitionen scheinen mittlerweile von dem Entwurf nicht mehr ganz überzeugt zu sein. „Die Frage, die wir uns momentan stellen, ist: Brauchen wir so ein Gesetz wirklich“, sagt Uwe Schwarz, Sprecher für Soziales und Gesundheit der SPD-Fraktion. Er sei sich sicher, dass das Gesetz nach den entsprechenden Anhörungen noch überarbeitet würde.

CDU und SPD sei auch bewusst, dass ein ähnlicher Vorschlag in Nordrhein-Westfalen abgelehnt wurde. Auch dort hatte die Opposition den entsprechenden Paragrafen kritisiert und Rechtsexperten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer solchen Verpflichtung geäußert.

Warum aber legt die Koalition den Gesetzentwurf schon vor, wenn die Rahmenbedingungen noch nicht geklärt sind? „Das Gesetz soll die medizinische Versorgung, vor allem auf dem Land, gewährleisten“, sagt Schwarz. Er sieht die Dringlichkeit, die Gesetzesänderung noch vor der zweiten Pandemiewelle vorzulegen, nicht erst, wenn es in ein paar Monaten zu spät sei.

Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Volker Meyer, sagt, viele Ärzte hätten am Anfang der ersten Pandemiewelle nicht mehr behandelt, kassenärztliche Praxen ihre Aufgaben nicht erfüllt. Auch er betont, es gebe noch keine endgültige Entscheidung über den Gesetzentwurf. „Wir brauchen noch konkrete Zahlen, um zu bestimmen, ob eine Arbeitsverpflichtung des medizinischen Personals notwendig ist“, sagt Meyer.

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