Gesetz zur Arbeitsmigration: Willkommen in Deutschland
Vor 65 Jahren begann das CDU-regierte Deutschland, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen. Jetzt erst tritt ein mutloses Einwanderungsgesetz in Kraft.
D er Schriftzug klebte im Seitenfenster wie eine fette schwarze Spinne. „Diesen Bus steuert ein Deutscher Fahrer“, in Runenschrift, das „deutscher“ mit großem D. Kurz vor Weihnachten 2019 hatte ein Fahrer der Linie 90 der Dresdner Verkehrsbetriebe (DVB) ihn ins Fester geklebt. Es gab wütende Reaktionen. „Ich war erleichtert, dass das keiner von uns war“, sagt heute Kristin Grund, die Personalchefin der DVB. Der Mann arbeitete bei einem Subunternehmen.
Er hatte offenbar gelesen, was außerhalb Dresdens kaum jemand wusste: Ein Arbeitsvermittler hatte Grund 20 Fahrer aus Serbien angeboten, mit langjähriger Berufserfahrung bei den Verkehrsbetrieben in Belgrad. „Berufskraftfahrer ist ein Mangelberuf, auch in Sachsen“, sagt sie. Dass keine Wehrpflichtigen mehr den Busschein machen, hat dieses Problem verschärft, ebenso die Verrentung geburtenstarker Jahrgänge. 2030 werden doppelt so viele DVB-MitarbeiterInnen in Rente gehen wie heute. Grund fehlen schon jetzt 30 neue FahrerInnen.
Es war absehbar, dass sie sie in Sachsen nicht finden würde. Einst hatten die DVB nur FahrerInnen mit entsprechendem Schein angestellt. Aber weil es immer schwieriger wird, überhaupt Arbeitskräfte zu finden, hat Grund getan, was Arbeitgeber heute im ganzen Land tun: flexibler werden, Anreize schaffen. Heute stellen die DVB auch BewerberInnen ohne Busschein ein – und finanzieren die 6.000 Euro teure Ausbildung. Und seit 2015 helfen die DVB Flüchtlingen auf dem Weg in den Beruf.
Doch auch das brachte nicht genug Nachschub. Grund mochte deshalb nicht auf die Serben verzichten, obwohl Serbien „einen Riesenmangel an Busfahrern“ hat. Mitarbeiter der DVB reisten dennoch nach Belgrad, trafen die Kandidaten. „Wir wollten denen eine Perspektive geben“, sagt Grund, die in Dresden Jura studiert hat und seit 2002 bei den DVB arbeitet. „Die sollen Dresdner werden.“ Alle Fahrer wollten auf Dauer nach Dresden kommen. „Viele wollen die Familie nachholen, den Kinder eine gute Ausbildung ermöglichen.“
Etwa 1,4 Millionen Arbeitskräfte werden heute in Deutschland gesucht. 64 Prozent aller Arbeitgeber haben Schwierigkeiten, Fachkräfte zu finden. 2018 waren es erst 51 Prozent. „Der Arbeitsmarkt wird zunehmend zu einem Bewerbermarkt, auf dem sich die Fachkräfte ihren Arbeitgeber aussuchen können“, heißt es in einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). 2010 war jede vierte Stelle in „Engpassberufen“ – etwa Elektriker, Pflegekräfte, Monteure – ausgeschrieben. Heute sind es vier von fünf.
„Das Handwerk leidet doppelt, denn die Industrie zahlt mehr“, sagt Lydia Malin vom IW. Betriebe müssen Aufträge ablehnen. Und selbst wenn mehr Frauen arbeiten als heute, Teilzeitbeschäftigte aufstocken und viele später in Rente gehen, rechnet die Bundesregierung bis 2030 mit 1,7 Millionen Erwerbspersonen weniger als heute.
Das Gesetz ist zu restriktiv
Eigentlich soll das bald alles anders werden. Am 1. März tritt das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft, das die Einwanderung von außerhalb der EU ermöglichen soll. „Wir kriegen jetzt endlich, nach über 30 Jahren Debatte in diesem Land, ein modernes Einwanderungsgesetz“, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Innenminister Horst Seehofer (CSU) sprach von einer „historischen Weichenstellung“. Doch schon jetzt ist klar, dass das Gesetz zu restriktiv ist. „Man hat nur das Bestehende etwas weiterentwickelt“, sagt Herbert Brücker vom Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. „Die zu erwartenden Effekte sind relativ gering.“
Das hat auch Kristin Grund erfahren. Mit dem neuen Gesetz hätte sie ihre 20 serbischen Busfahrer nicht nach Deutschland holen können. Im Sommer gab sie ihnen Arbeitsverträge, um bei der deutschen Botschaft Visa zu beantragen. Das Verfahren dauert meist ein Jahr. „Da kann man als Unternehmen auch nichts beschleunigen“, sagt Grund. Dass ihre Anträge überhaupt bearbeitet werden, liegt daran, dass sie dem neuen Gesetz zuvorgekommen ist. Denn laut diesem kann eine ausgebildete Fachkraft eine Aufenthaltserlaubnis für die Arbeit erhalten, „zu der sie ihre erworbene Qualifikation befähigt“.
Was plausibel klingt, schließt viele aus: „Menschen können nur einwandern, wenn ihre Ausbildung gegenüber deutschen Abschlüssen als gleichwertig anerkannt wird. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Migranten genauso sein müssten wie deutsche Arbeitnehmer“, sagt der Forscher Brücker.
Das sind sie aber nicht: „In Serbien darf man Bus fahren, ohne ausgebildeter Kraftfahrer zu sein“, sagt Grund. „Nach dem neuen Gesetz wäre es gar nicht möglich gewesen, die Busfahrer herzuholen.“ Diese kommen auf Grundlage einer Ausnahmeregelung für die Westbalkanstaaten, die Ende 2020 ausläuft. Eine neue Sonderregelung für Busfahrer ist allerdings in Planung.
Dass es in vielen Ländern kaum formalisierte Qualifikationen gibt, ist nur eine der Hürden, die auch künftig den Weg auf den deutschen Arbeitsmarkt versperren. Die Bundesagentur für Arbeit warnt deshalb vor „überzogenen Erwartungen“. Die Hoffnung der Bundesregierung, dass mit dem Gesetz künftig über 25.000 neue Fachkräfte pro Jahr nach Deutschland kommen, sei „ein ambitioniertes Ziel“, sagte der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, Daniel Terzenbach, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. 25.000 pro Jahr – das ist etwa ein Zehntel dessen, was nötig ist, damit die Zahl der Arbeitskräfte im Land nicht immer weiter schrumpft. Und nicht mal dafür dürfte es reichen. Wenn die Not der Wirtschaft aber so groß ist – warum ist das neue Gesetz dann so restriktiv?
Die Lebenslüge der alten Bundesrepublik
Ein wichtiger Teil der Antwort hat mit der Union zu tun. CDU und CSU haben sich unendlich schwer damit getan, sich von der Lebenslüge der alten Bundesrepublik zu lösen: Dass Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei. Die schlichte Erkenntnis, dass dauerhafter Wohlstand ohne Migration nicht zu haben ist, mochte die Union viele Jahre weder sich noch ihren WählerInnen zumuten. Der Prozess, sich von dieser Haltung zu lösen, war lang – und ist bis heute nicht endgültig vollzogen.
Das ist Ausdruck davon und gleichzeitig einer der Gründe dafür, dass es bis heute, bis in die Tage nach dem Anschlag von Hanau, eine innere Spaltung der Gesellschaft gibt: In die, die dazugehören und jene, denen das abgesprochen wird. Wie sehr die Union noch mit der Einwanderungsfrage hadert, lässt sich an der Mutlosigkeit des Arbeitskräftegesetzes ablesen. Selbst für Menschen, die schon im Land sind, sind kaum großzügige Regelungen enthalten. Das Einwanderungsgesetz, auf das die Union sich letztlich eingelassen hat, ist weniger eine „historische Weichenstellung“ als vielmehr ein ungewolltes Kind.
„Einwanderung war tabuisiert“, sagt Rita Süssmuth über die Jahre, in denen CDU und CSU einst anfingen, über diese Fragen zu sprechen. An einem Februarnachmittag sitzt die Ex-Bundestagspräsidentin in einem roten Blazer im obersten Stockwerk eines Hauses in der Nähe des Brandenburger Tors. Ihr Assistent ist ein junger schwarzer Mann. Sie wolle „das Interview unbedingt machen“, hatte Süssmuths Büroleiterin gesagt. Das Thema sei ihr wichtig.
Das Wachstum der 1950er und 1960er Jahre wurde „nicht allein von uns geleistet“, sagt Süssmuth. „Wer hat denn die Gastarbeiter ins Land geholt?“, fragt sie. Es war ihre Partei. 13 Millionen Menschen wurden ab 1955 angeworben, die meisten zu Zeiten der CDU-Kanzler Adenauer, Erhard und Kiesinger. „Wir brauchten sie für die Industrie, für die Kohle, den Stahl, die Autos. Das war die Realität“, sagt Süssmuth. Etwa 2,5 Millionen davon blieben nach dem „Anwerbestopp“ 1973 im Land – und holten ihre Familien nach. „Trotzdem ging man davon aus: Wir sind kein Einwanderungsland.“ Und entsprechend habe man sich auch „nicht um die Langzeitprobleme der Integration gekümmert.“
„Die gehen auch noch nach Hause“
1994, Süssmuth war Bundestagspräsidentin, wies sie auf diesen offensichtlichen Widerspruch hin. Für ein Buch ließ sie sich von Kai Diekmann, damals Politikchef der Bild, interviewen und forderte darin ein Einwanderungsgesetz. „Ich wurde daraufhin vom Fraktionsvorstand einbestellt“, erinnert sich Süssmuth. Das war damals Wolfgang Schäuble, „Ehrenvorsitzender“ war der 2002 gestorbene Hesse Alfred Dregger.
„So ein Gesetz brauchen wir überhaupt nicht“, habe Dregger ihr gesagt.
Süssmuth habe geantwortet: „Aber wir haben doch die Migranten im Land.“
Darauf Dregger: „Die gehen auch noch nach Hause.“
„Wann denn?“, habe Süssmuth gefragt.
„Das werden Sie schon noch sehen“, habe Dregger gesagt.
Migration als Unfall: Wenn Menschen im Land blieben, war etwas schiefgegangen und musste korrigiert werden. Das war der Sound in dieser Zeit. Die CDU, das war damals in weiten Teilen die Keine-Einwanderung-Partei. So sah sie sich, und dafür wurde sie gewählt. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen kürzlich sagte: „Ich bin vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten, damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen.“
Die rot-grüne Koalition 1998 hingegen versprach eine Wende: Ein modernes Staatsbürgerrecht, besserer Flüchtlingsschutz, Zugangsmöglichkeiten zum deutschen Arbeitsmarkt.
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Im hessischen Landtagswahlkampf 1999 sammelte der CDUler Roland Koch Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Manfred Kanther, ein Vertrauter Dreggers, sagte im Bundestag, ein Einwanderungsgesetz sei „entweder ein Fehler oder ein Etikettenschwindel“. Edmund Stoiber, zu der Zeit Ministerpräsident Bayerns, sagte, Erleichterungen bei der Einwanderung seien „gegen den Willen von 70 Prozent der Bevölkerung“. Er werde „alles tun, sie zu verhindern“.
Ein hohes Maß an geistiger Verwirrung
Heiner Geißler hat seine Erinnerung an eine Sitzung des Fraktionsvorstands von CDU/CSU aufgeschrieben. Bei der brachte er das Grundgesetz ins Spiel, um für die doppelte Staatsbürgerschaft zu werben. Daraufhin sei Kanther aufgestanden und sagte: „Die Verfassung ist fünfzig Jahre alt. Das deutsche Volk ist tausend Jahre alt.“ Daran, so Geißler später, könne man sehen, „welch hohes Maß an geistiger Verwirrung herrschte, als es um die Bewertung der Ausländer- und Einwanderungspolitik ging“.
2000 öffnete Rot-Grün den Arbeitsmarkt per „Green Card“ für ProgrammiererInnen. In Nordrhein-Westfalen forderte der CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers daraufhin, statt „Inder an die Computer müssen unsere Kinder an die Computer“. Selbst die stockseriöse Agentur AFP schrieb am 31. Juli 2000 vom „ersten Computer-Inder“, Harianto Wijaya. Bei dem handelte es sich allerdings um einen 25-jährigen Indonesier mit deutscher Ausbildung und „Traumnote 1,0“: „Er lächelt schüchtern, als Arbeitsminister Walter Riester ihm strahlend eine Green Card überreicht.“ Bayerns CSU-Innenminister Günther Beckstein sagte zur Green Card, er wolle, dass „weniger kommen, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen“.
Kristin Grund, DVB-Personalchefin
Doch Rot-Grün wollte mehr: ein Einwanderungsgesetz. Und das brauchte Akzeptanz, vor allem im CDU-dominierten Bundesrat. Es war Innenminister Otto Schilys Idee, dafür eine überparteiliche „Unabhängige Kommission ‚Zuwanderung‘ “ einzusetzen, die das Gesetz vorbereiten sollte. Am 12. September 2000 nahm diese unter dem Vorsitz Rita Süssmuths ihre Arbeit auf.
„Angela Merkel, die damals Parteivorsitzende war, hat mich bedrängt, diese Kommission nicht zu übernehmen“, erinnert Süssmuth sich. „Das kann ich nicht verantworten, es geht um unser Land“, habe sie gesagt. Schilys Kommission war nicht gewollt in der Union. Also setzte diese ein eigenes Gremium ein: Die „Präsidiumskommission ‚Zuwanderung und Integration‘ “, geleitet von Saarlands Ministerpräsident Peter Müller und dem Innenpolitiker Wolfgang Bosbach. „Die sollte für die Partei die Gegenargumente aufbauen“, sagt Süssmuth.
Ein Mitglied dieser CDU-Kommission war der Adenauer-Stipendiat Bülent Arslan, damals Mitglied des „Deutsch-Türkischen Forums“ in der CDU. „In der Partei und im Präsidium herrschte die Ansicht vor, dass wir kein klassisches Einwanderungsland sind“, sagt er heute. Das Gremium habe sich vor allem mit „Integration“ beschäftigt: „Es ging um die, die schon da waren, nicht darum, neue zu holen.“
Süssmuth suchte das Gespräch
Süssmuth ließ sich nicht beirren. „Denkt an die Akzeptanz, die wir brauchen, für das Parlament und die Gesellschaft“, habe sie den Mitgliedern gesagt. „Die Frage war: Wie viel Konsens können wir erreichen?“ Dabei hatte helfen sollen, dass auch Kritiker wie der Freiburger Jurist Kay Hailbronner von Schily in die Kommission berufen worden waren.
Was Süssmuth hingegen vermisste: MigrantInnen. Schily war „der Meinung, dass es nichts bringt, die Kernprobleme der Zuwanderung mit Migranten zu verhandeln“, sagt Süssmuth. „Er glaubte, sie hätten ganz andere Interessen, sie würden primär einen Job wollen und ansonsten ihr eigenes Land hochhalten“, sagt Süssmuth. „Glücklicherweise hatten wir Geld für Anhörungen, so dass wir wenigstens auf diesem Weg Migranten einladen konnten.“ Und sie suchte das Gespräch mit MigrantInnen, etwa in Schrebergärten. „Ich wollte sehen, was sie da tun, welche Pflanzen sie anbauen, was sie kochen“, sagt Süssmuth. Vor allem wollte sie erfahren, was fehlte, damit sie sich in diesem Land wirklich zu Hause fühlen können.
Am 4. Juli 2001 übergab sie ihren Bericht an Schily. „Es ist ein sehr ausbalancierter Bericht geworden, die Empfehlungen waren sehr sorgfältig erarbeitet und ausgeführt worden“, sagt sie heute.
Die Kommission empfahl, dass zunächst mindestens 50.000 Menschen pro Jahr zur Aus- und Fortbildung nach Deutschland zuwandern sollten. Davon sollten 20.000 qualifizierte AusländerInnen nach einem Punktesystem ausgewählt werden. Weitere 20.000 sollten Branchen mit Arbeitskräftemangel selbst anwerben. Für 10.000 von diesen hätten die ArbeitgeberInnen eine Gebühr für Qualifizierungsmaßnahmen an den Staat zahlen sollen. Außerdem sollten 10.000 junge Menschen für eine Ausbildung kommen können. „Wir wollten einmal Erfahrungen sammeln. Damals gab es ja die ‚Willkommenskultur‘ noch nicht“, sagt Süssmuth.
Rita Süssmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin (CDU)
SPD und Grüne waren zufrieden, die CDU war es nicht: Bosbach war „überrascht, wie groß die Unterschiede des Süssmuth-Berichts im Vergleich zu den Vorstellungen der Union“ seien. Einen Konsens könne er sich „nicht vorstellen“. Parteichefin Angela Merkel war „sehr skeptisch“. Zuwanderung dürfe „keine Antwort auf die demografischen Probleme sein“, so die spätere Bundeskanzlerin.
Eine Gefahr für die „christliche Nation“
Viele, auch ParteifreundInnen, hätten befürchtet, dies „gefährde die christliche Nation“, sagt Süssmuth. „Wenn wir eine ‚christliche Nation‘ wirklich leben, werden wir sie auch verteidigen, wenn wir das Zuwanderungsrecht öffnen“, sagte sie. Ihre KritikerInnen hätten geglaubt, dass sich die weltweiten Migrationsbewegungen stoppen ließen. Sie ging schon damals nicht davon aus.
In den folgenden Jahren reiste sie als Bundestagspräsidentin a. D. ins Ausland, sprach im Rahmen der UN-Migrationskommission über das Thema, etwa 2005 in Ägypten. „Die Ägypter sagten da schon: ‚Wenn ihr nicht bald Regelungen schafft, dann werden die Menschen so kommen, die warten nicht mehr lange.‘ “ Auch Kofi Annan, der UN-Generalsekretär, sagte Süssmuth: „Schafft Win-win-Situationen“ – für Deutschland und MigrantInnen.
Eben darauf zielten die Empfehlungen ihrer Kommission. Doch: „Die wurden leider nicht umgesetzt, sondern verworfen“, sagt Süssmuth. 2005 trat zwar das „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“ in Kraft. Doch von den rot-grünen Ideen, die wiederum viel von Süssmuths Empfehlungen aufgenommen hatten, ließ die Union im Bundesrat nur wenig stehen. „Es waren nur wenige Elemente dessen enthalten, was unsere Kommission empfohlen hat“, sagt Süssmuth. Und trotzdem: „Wir haben dazu beigetragen, dass sich die Position, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, als abwegig erwies.“
Aber erst einmal blieb vieles beim Alten. Es gab einige Sonderregelungen, etwa die „Blaue Karte EU“ für Hochqualifizierte, für „Engpassberufe“, oder eben die temporäre Westbalkanregelung. Doch insgesamt kamen im Schnitt der Jahre 2009 bis 2018 jedes Jahr rund 28.000 Fachkräfte und etwa 14.000 Geringqualifizierte zum Arbeiten aus Drittstaaten nach Deutschland – in den letzten Jahren war das nur noch ein Tropfen auf den heißen Stein.
Tauber wollte es so nicht weitergehen lassen
Es war der damalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber, der – genau wie 20 Jahre zuvor Süssmuth – es so nicht weitergehen lassen wollte. Am 8. Januar 2015 erschien ein langes Interview mit ihm in der Welt: „Wenn wir eine Zuwanderung wollen, die nicht nur arbeitsmarktoptimiert ist, nicht nur temporär, dann müssen wir auch über ein Einwanderungsgesetz reden“, steht darin.
Der etwas umständliche, aber vorsichtige Satz provozierte exakt die gleiche Reaktion wie die Äußerung Süssmuths 1994: „Ich bin von Bosbach bei der nächsten Fraktionssitzung in der Luft zerrissen worden“, sagt Tauber. „Nach dem alten Mantra ‚Deutschland ist kein Einwanderungsland.‘ “ Dabei dachte Tauber, er hätte eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen.
„Mein Vorstoß wäre ja durchaus im konservativen Sinne zu wenden gewesen: Als Versuch zu klären, wer da eigentlich kommt. Wir bestimmen dafür die Regeln und entscheiden: Wer passt?“, sagt er. Nach dem Anwerbestopp habe keiner gesagt: „Wenn die bleiben, müssen wir uns anders darum kümmern“, sagt Tauber. Stattdessen habe seine Partei „an dem Bild des ethnisch homogenen Deutschlands festgehalten. Das wurde mit der Fraktionssitzung schlagartig klar.“
Auch 2015 mochten weite Teile der Union ihre Haltung nicht überdenken. Die Partei habe „nie akzeptiert, dass sie es war, die massiv dafür gesorgt hat, dass der Ausländeranteil stark gestiegen ist“, sagt Tauber. Viele scheuten das Bekenntnis und die Abkehr von dieser Schizophrenie. Und viele fragten sich: War das nur Tauber, der da laut gedacht hatte? „Es wurde gemutmaßt, dass es eine Idee der Kanzlerin war.“ War es aber nicht: „Ich hatte das nicht mit Merkel abgestimmt. Aber sie hat es laufen lassen.“
Druck der Wirtschaft wuchs
Das dürfte damit zu tun gehabt haben, dass der Druck aus der Wirtschaft wuchs. Als 2015 klar war, dass etwa 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren, nannte der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, dies „das Beste, was 2015 passiert ist“. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände forderte, noch mehr Zuwanderung zu ermöglichen.
„Der Druck der Wirtschaft war massiv“, sagt Tauber. „Arbeitgeberverbände, Fachverbände, Handwerk, alle haben gesagt: Bitte macht das.“ Tauber sagt, ihm sei es nicht nur um den Zugang zum Arbeitsmarkt gegangen. „Die Frage war nicht nur: Wie leicht ist das eigentlich für einen Mittelständler, nicht nur für Siemens oder Bayer, jemanden aus dem Ausland einzustellen? Mir ging es darum: Wie macht man aus den Arbeitskräften neue Landsleute?“
Bald darauf musste die Partei ihr Programm für die Bundestagswahl 2017 schreiben. „Es war hochumstritten, ob es reinkommt“, sagt Tauber. Lange Zeit sei nicht einmal über den Begriff Einigkeit herzustellen gewesen – ob es „Ein-“ oder „Zuwanderung“ heißt. „Zuwanderung bedeutet, Neue kommen dazu und müssen sich assimilieren. Einwanderung heißt: Sie können alles mitbringen und müssen nicht einfach so werden wie alle anderen“, sagt Tauber.
Am Ende stand im Wahlprogramm, Deutschland brauche ein „Regelwerk zur Steuerung von Einwanderung in den Arbeitsmarkt“. Ein solches „Fachkräftezuwanderungsgesetz“ werde die bestehenden Regelungen zusammenfassen. Ein Kompromiss zwischen den Flügeln der Partei. „Der gordische Knoten wurde zerschlagen“, sagt Tauber. Die CDU habe sich „mit dem Thema schon schwergetan“.
Wie sehr war sie eingeklemmt zwischen ihrem Anspruch, Wirtschaftswachstum zu sichern – und einem konservativen Flügel, der eine restriktive Innenpolitik will? „Es mag diesen Zielkonflikt bei einigen gegeben haben“, sagt Tauber. Er selbst sehe den Konflikt nicht. „Wenn wir wollen, dass Menschen nach Deutschland kommen, die gern hierher kommen, um ihren Kindern eine gute Zukunft zu sichern, sind das bürgerliche Tugenden.“ Das Einzige, wovon seine Partei sich dafür lösen müsse, sei „die Idee eines ethnisch homogenen Staatsvolkes“.
Tauber sagt, es werde heute oft vergessen, dass „nicht die halbe Welt in Deutschland Arbeit suchen will“. „Das ist Quatsch, deutsche Hybris. Wir müssen dafür werben, dass Leute kommen wollen.“ Dieses „gute Marketing“ könne man aber nicht per Gesetz anordnen.
Rita Süssmuth sieht es genauso. „Wir sind nicht mehr das Land, das am begehrtesten ist.“ Deutschland steht heute auf Platz 12 der beliebtesten Ziele für Fachkräfte. Staaten wie Australien oder Schweden, „Länder, die beweglicher sind“, liegen vorn. „Dass wir Arbeitskräfte brauchen, weil hier nicht genug Menschen geboren werden, das wissen wir lange genug.“ Man müsse die Einwanderung – „ich bin froh, dass ich diesen Begriff heute benutzen kann“ – viel mehr „vom Miteinander her denken“, sagt Süssmuth. Das sei das Hauptanliegen der Kommission gewesen. „Die Öffnung zur Einwanderung ist heute erfolgt“, sagt sie. Eine der wichtigsten Fragen bleibe, wie „dieses Miteinander so organisiert werden kann, dass Massenflucht verringert, und Herkunfts- und Aufnahmeländer sich wechselseitig unterstützen können“.
Eine sehr vorsichtige Öffnung
2018 einigten sich Union und SPD auf das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wer eine Stelle in einem Beruf vorweisen kann, für den er formal qualifiziert ist, darf kommen. Die Beschränkung auf sogenannte Engpassberufe entfällt, ebenso die „Vorrangprüfung“ – bislang musste immer erst geprüft werden, ob nicht ein deutscher Bewerber für einen Job infrage kommt. Ausländische Fachkräfte mit Berufsausbildung und HochschulabsolventInnen sollen künftig für sechs Monate nach Deutschland kommen können, um sich hier einen Job zu suchen. Sozialleistungen sollen sie in dieser Zeit nicht beziehen können. Die Jobsuchenden müssen schon vorher so gut Deutsch sprechen, wie es für eine Tätigkeit ihrer Qualifikation erforderlich ist. Vor der Einreise muss nachgewiesen werden, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist.
Es ist eine sehr vorsichtige Öffnung, in die weiter viele Hürden eingebaut sind. Auch die 20 Busfahrer, die Kristin Grund, die Dresdner Personalchefin, nach Deutschland bringt, bekommen diese Hemmnisse zu spüren. „Erst einmal bekommen sie nur ein Visum für zwei Jahre“, sagt sie. Wer trotzdem seine Familie mitbringen wolle, habe weitere Schwierigkeiten: „Wenn die Ehefrau zufällig Krankenschwester ist, bekommt sie bevorzugt ein Visum“, sagt Grund. „Sind die Angehörigen nicht in einem Mangelberuf qualifiziert, ist es schwer.“ Die Fahrer müssen dann etwa eine ausreichend große Wohnung und Einkommen nachweisen.
Im Moment lernen die Fahrer in Belgrad Deutsch, auf Kosten der DVB. „Wir werden den Deutschkurs hier weiterführen, das ist den Dresdnern unheimlich wichtig.“ Wenn die Visa da sind, bekommen sie eine „Tarif- und Linienschulung“, Einweisung in die Fahrzeuge, müssen ortskundig werden. „Sie müssen lernen, wie sie mit der Leitstelle kommunizieren und wie sie sich in Unfallsituationen verhalten müssen“, sagt Grund. Sie hat eine Mitarbeiterin als „Integrationsberaterin“ abgestellt. Die soll auch bei der Wohnungssuche helfen. „Die sollen wirklich hier ankommen“, sagt Grund. Wann das sein wird, weiß sie noch nicht. „Ich hätte sie gern im Februar hier gehabt. Aber die Arbeit läuft nicht weg.“
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