Gesellschaft spaltet Wissenschaft: Abstimmung vertagt
Eigentlich wollte der Wissenschaftsrat sein Positionspapier über die „großen gesellschaftliche Herausforderungen“ schon längst verabschiedet haben.
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BERLIN taz | Die „großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ wie Klimawandel, Energie- und Agrarwende beschäftigen auch den Wissenschaftsrat, das führende Beratungsgremium der deutschen Wissenschaftspolitik. Die Erörterungen, wie daraus ein neues „wissenschaftspolitisches Leitbild“ zu formen ist, erweisen sich aktuell aber eher als eine große Herausforderung für die Kompromissfähigkeit und Diskurslogistik des Expertengremiums selbst.
Über ein Positionspapier, das vergangene Woche auf der Wintertagung des Wissenschaftsrates in Berlin beschlossen werden sollte, kam keine Einigkeit zustande. Es bestehe weiterer Diskussionsbedarf, wurde mitgeteilt.
Nun wird schon im vierten Jahr räsoniert. Im Sommer 2012 hatte eine Arbeitsgruppe unter Leitung des damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Marquardt die Beratungen aufgenommen. Ursprünglich wollte man eine wissenschaftliche Stellungnahme zur Energiewende abgeben, dann wurde das Thema weiter gefasst, nachdem der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) sein Gutachten zur „Großen Transformation“ vorgelegt hatte.
Nach Lesart des Wissenschaftsrates sollen die „großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ als langfristige und großräumige Trends oder Szenarien für künftige Entwicklungen der Gesellschaft und ihrer natürlichen Umwelt definiert werden, auf die die Wissenschaft mit einem neuen „Leitbild“ zu reagieren habe. Die Tätigkeit der Arbeitsgruppe wurde übrigens von der Mercator-Stiftung gesponsert.
Neben den beiden traditionellen Leitlinien der Wissenschaft – der Grundlagenforschung für den Erkenntnisfortschritt und die anwendungsorientierte Forschung für Innovation und Wohlstandsmehrung – kommt als drittes Leitbild die Gesellschaftsorientierung hinzu, erklärte Marquardt im Juli 2014 bei seiner Antrittsrede als Chef des Forschungszentrums Jülich.
„Mit dem Leitbild der großen Herausforderungen wird die Erwartung der Gesellschaft an die Wissenschaft verbunden, ihre Erkenntnis- und Innovationsprozesse an gesellschaftlichen Bedarfen zu orientieren“, sagte Marquardt dort. Diese Orientierung ist neu, und für etliche Wissenschaftler offenbar auch grenzwertig.
Das erste Papier aus Marquardts Feder, über 100 Seiten, wurde in einer zweiten Fassung inhaltlich entschärft und auf knapp 30 Seiten eingedampft. Gestrichen wurden Sätze mit wissenschaftspolitischer Sprengkraft wie dieser: „Im Kontext Großer gesellschaftlicher Herausforderungen kommt somit dem Dialog zwischen wissenschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Akteuren eine besondere Bedeutung zu, besonders wenn sich diese nicht nur auf die Kommunikation von Forschungsergebnissen beschränkt, sondern den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren Beteiligungschancen bei der Formulierung und gegebenenfalls auch Bearbeitung von Forschungsfragen im Sinne von Co-Design und Co-Produktion einräumt.“
Fachegoismen abbauen
Die Deutsche Universitätszeitung (DUZ), die im Januar aus den Papieren zitiert hatte, kam zu dem Schluss: „Es ist im Wesentlichen Marquardts Verdienst, dass das neue Leitbild den Gedanken der Interdisziplinarität in der deutschen Wissenschaft weiter voranbringen kann – wenn denn die Akteure in Universitäten, Instituten, Forschungsorganisationen und auch in den Akademien guten Willens sind und Fachegoismen und versäultes Denken in den Wissenschaftsstrukturen weiter abbauen.“
Das ist in der letzten Woche bei der Beratung im Berliner Neubau des Forschungsministeriums fehlgeschlagen. Die Beschlussfassung wurde auf den April verschoben, dann trifft der Wissenschaftsrat in Stuttgart zusammen. „Vermutlich ist die Verschiebung sogar eine gute Nachricht“, urteilte Uwe Schneidewind, Leiter des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, in einer ersten Stellungnahme auf dem Internet-Blog „Nachhaltige Wissenschaft“. Die Vertagung zeige, „dass die Diskussion darüber, wie sich Wissenschaft gegenüber den gesellschaftlichen Schlüsselherausforderungen des 21. Jahrhunderts positionieren soll, einen Nerv trifft“, stellt Uwe Schneidewind fest.
Wenn selbst der Wissenschaftsrat, „der häufig schon zukunftsweisender Impulsgeber für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in den letzten Jahrzehnten war“, hier keinen gemeinsamen Nenner finde, mache dies deutlich, so der Autor des Buchs „Transformative Wissenschaft“, „wie tief die Diskussion über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft das Wissenschaftssystem und seine aktuelle Aufstellung herausfordert.“ Keine Veränderung eben ohne Widerstand.
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