piwik no script img

GeschichtsklitterungVerschwiegenes Armenhaus

Lübeck hat sein St. Annen-Museum neu sortiert und will gleich das ganze Viertel mit vermarkten - dessen Vergangenheit passt da nicht ins Konzept.

Weltlicher Pomp: Büste des Lübecker Kaufmanns und Ratsherrn Thomas Fredenhagen (1627-1709) im Obergeschoss des Museums. Bild: dpa

HAMBURG taz | Die Frage ist ja immer, ob man aus der Vergangenheit lernt. Ob man man in melancholischer Nostalgie stecken bleibt angesichts vergangen Glanzes – oder ob man Fehler klar benennt, um sie nicht fortzuschreiben. Das gilt auch für Städte wie Lübeck, von 1300 bis 1500 Zentrum des Handels-Protektionsbundes Hanse. Der funktionierte gut, brachte Wohlstand, man baute riesige Kirchen und beauftragte Heerscharen von Künstlern mit der Erstellung des Inventars.

Doch auch wenn diese Aktivitäten religiös-wohltätig scheinen: Eigentlich ging es ums Prestige. Weil die Bürger den Domherren ihre Privilegien neideten, bauten sie im 13. Jahrhundert die Marienkirche, die deren Dom um ein Winziges überragte. Und wer als Bürger was auf sich hielt, bestellte den teuersten Altar.

Verblichene Größe

Die Hanse löste sich 1669 auf, und Lübeck verarmte. Der eine oder andere träumte immer mal von der Wiederbelebung der Hanse, aber die Handelswege hatten sich gen Westen verschoben. Lübeck lag nicht mehr auf der Route.

Die Armut und das Träumen sind bis heute geblieben. Eine Kluft besteht insbesondere zwischen dem im Zweiten Weltkrieg kaum zerstörten kunsthistorischen Reichtum und der aktuellen finanziellen Misere. Da knirscht es überall, da fehlt das Geld, auch nur das Wichtigste zu tun: die Kunstschätze im Dom zu beleuchten oder die Kirchen winters bis 17 Uhr geöffnet zu halten. Dabei wäre eine gute Präsentationspolitik nötig, denn in Lübeck verteilen sich die Kunstschätze auf die ganze Stadt, so dass Hinweisschilder sehr nützlich wären. „Der Denkmalschutz will keine sichtbaren Plaketten an den alten Häusern“, sagt Hans Wißkirchen, Direktor der Lübecker Museen.

Und so kommt es, dass man den einzigen Ort hochkarätiger mittelalterlicher Kunstschätze nicht findet: Erst 200 Meter vor dem St. Annen-Museum findet sich ein Pfeil. An diesem Versteckspiel hat auch dessen jüngste Wiedereröffnung nichts geändert. Das ist schade, denn in dem Gebäude lagern Gemälde und Schnitzereien erlesener Qualität.

Um ihnen Geltung zu verschaffen, haben die Museumsleute jetzt ein neues Label erfunden: „Museumsquartier St. Annen“ lautet es, und es soll Insignie nicht nur des Museums, sondern des ganzen Viertels sein. Das will man gleich mit vermarkten. Und um zu zeigen, wie das geht, hat man in den eigenen vier Wänden angefangen und das Museumskonzept von 1915 modernisiert. So hat man die einst bunt durcheinander stehenden Sakral und Alltagsdinge getrennt: Im Erdgeschoss stehen Kruzifixe, Altäre, Andachtsbilder. Das Obergeschoss zieren Relikte großbürgerlicher Wohnkultur von 1600 bis 1800.

Bezüglich der Authentizität des Ortes ist dies im Erdgeschoss kein Problem: Altäre in einem einstigen Klostergang – das ist ästhetisch und historisch stimmig. Und dass die Exponate nicht alle hier standen, versteht sich. Im Obergeschoss aber liegen die Dinge nicht so klar: Da könnte man glauben, dass die Wand-Paneele aus dem 16. Jahrhundert schon immer hier waren. Aber das stimmt nicht: Sie stammen alle aus Schenkungen, und die Raumflucht des Obergeschosses wurde eigens für das Museum konzipiert.

Genau dieser Anschein des Authentischen sei Kern der alten Museumspädagogik, sagt Kurator Manfred Eickhölter. Heute zeige man durch grell grüne, blaue, rote Podeste, dass das Gezeigte inszeniert sei.

Im Detail ergibt das einen irritierenden Verfremdungseffekt: Die Kombination bunter Plastik-Vitrinen und authentischer Gegenstände überzeugt nicht. Das Screen-Feuerchen in der Küche des 18. Jahrhunderts wirkt wie ein ironisches Zitat aus der Gegenwart, und beim Festsaal mit Intarsien des 17. Jahrhunderts ist man der Versuchung erlegen, einen Tisch mit Trinkpokalen aufzustellen, damit es echt aussieht. Man ist also im alten Konzept stecken geblieben, und die Reform ist nur eine halbe.

Zudem fehlt eine wichtige Reflexionsebene: Nirgends findet sich ein Wort über die Kluft zwischen der langjährigen Funktion des Gebäudes und den aktuellen Exponaten. Denn nach einer Episode als Kloster für höhere Töchtervon 1502 bis 1515 diente St. Annen ab 1601 als Armen und Waisenhaus. Wo einst die Betten der Kinder standen, prangen heute Goldledertapeten des 18. Jahrhunderts.

Doch dies thematisiert die neue Dauerausstellung nicht; fast könnte man von einer Überschreibung eines düsteren Kapitels, einer Vereinnahmung durch die Oberschicht sprechen. „Das ist der Sammlungsgeschichte und der Tatsache geschuldet, dass die Gegenstände der Armen, da aus billigerem Material, nicht erhalten sind“, sagt Bettina Zöller-Stock, die kommissarische Museumsleiterin. Warum das nirgends zu lesen ist? „Wir gehen ja im Kindermuseum darauf ein“, sagt Zöller-Stock. Das aber liegt versteckt im Hof, hat zwei Räume, und erwähnt allenfalls pflichtschuldigst, dass dies ein Waisenhaus für arme Kinder war. Zur Verdeutlichung hat man eine verglaste Reichen-Stube hingestellt.

Mehr hat man nicht gewagt. Und vielleicht spiegelt sich hierin auch das Problem des umgebenden Stadtteils, der sich gerade gleichfalls von seiner Geschichte löst: Bislang lebten Handwerker in dem nach der Ägidienkirche benannten Viertel. Doch seit alle in Lübecks Zentrum wohnen wollen, ist die Gentrifizierung der Backstein-Häuschen im Gange. Der Pastor erzählt von der alten Frau, die nach 30 Jahren wegziehen musste, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte.

Die Fassade stimmt

Es ist dasselbe wie in Hamburg und anderswo: Die Fassade stimmt, und für die oberflächliche Vermarktung mag es reichen. Ein nachhaltiges soziales Gefüge entsteht so aber nicht. Denn die Wirklichkeit beugt sich nicht immer der Vision.

Das gilt auch für das St. Annen-Museum. Das wurde 2003 um die Kunsthalle erweitert, die man in die Grundmauern der 1843 abgebrannten Klosterkirche setzte – wohl mit dem Gedanken, die Besucher zur Moderne zu verleiten. Aber das funktioniert nur bedingt: Die aktuelle Ausstellung „Afrika in mir“ von Helmut Rieger wirkt in ihrem neo-expressionistischen Duktus samt afrikanischen Original-Skulpturen etwas unmotiviert und eignet sich kaum als Plädoyer für die moderne Kunst. Aber Kunsthallen-Chef Thorsten Rodiek hat kein Geld für Ausstellungen und muss nehmen, was er bekommen kann.

Apropos Finanzen: Keinen Cent von den drei Millionen hat die Stadt zu der Renovierung des St. Annen-Museums beigesteuert, das hat größtenteils die Ernst-Possehl-Stiftung getan. Sie ist in Lübeck allgegenwärtig und greift überall ein, wo Kulturerbe zu verkommen droht. Ein Erbe, dem die Lübecker stets ambivalent gegenüber standen: Mit nur einer Stimme Mehrheit votierte der Rat 1863 gegen den Abriss des Holstentors.

Inzwischen rühmt man sich damit. Es ist Emblem eines vermeintlich gemütlichen Lübecks geworden, in dem der Wettstreit zwischen Vergangenheit und Gegenwart aber omnipräsent ist: 2.000 denkmalgeschützte Häuser hat die Innenstadt, 18.000 Restaurierungen gab es in den letzten Jahren, und die Lübecker wirken überfordert. Fast widerwillig lässt man in einer Boutique mittelalterliche Heiligen-Fresken hinter einer Plastikwand hervorlugen; im Sportladen werden die Rucksäcke direkt gegen die alten Wandgemälde gedrückt. Ob das den Fresken schadet? „Es ist unklar. Manche zerfallen unter guten, andere halten unter miserablen Bedingungen“, sagt Kurator Manfred Eickhölter.

Lübecks Politiker und Bürger identifizieren sich, soviel versteht man, nur zögerlich mit den Relikten von einst – vielleicht aus Melancholie darüber, dass diese Zeit vorbei ist. Andererseits beruft man sich lieber auf Reichtum als auf Armut. Eventuell ist das auch der Grund für das Verschweigen der Armenhaus-Vergangenheit in St. Annen: In einem Viertel, in das jetzt Betuchte ziehen, will man niemandem mit vergangener Not belästigen. Da soll alles glänzen wie einst.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!