Geschichtsbuch "Die vielköpfige Hydra": Black Atlantic
Zwei US-amerikanische Historiker machen sich auf die Suche nach der Geschichte des Widerstands gegen Kolonialismus und Sklaverei - und finden nicht viel Neues.
Eigentlich steht es in jedem Schulbuch. Der europäische Kapitalismus beruht auf dem Dreieckshandel über den Atlantik zwischen England, Afrika und Amerika, dort vor allem der Karibik. Aus England wurden Industriewaren zur Bezahlung der Sklaven nach Afrika geliefert, Millionen von gefangenen Menschen wurden an Bord genommen und in die Zuckerrohrplantagen der Karibik verkauft und von dort wurden Zucker und andere Rohstoffe nach England verschifft. Dieser Ablauf wird heute als Faktum gesetzt.
Doch hinter dieser "Gewalttätigkeit abstrakter Geschichtsschreibung" verschwindet immer wieder die Geschichte der konkreten Menschen und ihres Widerstandes. Diesen Menschen wollen die beiden Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker in ihrem über 400 Seiten umfassenden Werk über "Die vielköpfige Hydra - die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks" wieder ihre Gesichter geben.
Die Unsichtbarkeit vieler Akteure ist für die Autoren "zum Teil das Ergebnis der Repression, der sie zu ihrer Zeit ausgesetzt waren - der Gewalt der Scheiterhaufen, des Hauklotzes, des Galgens und der Ketten in den dunklen Schiffsladeräumen".
So erzählen die beiden Geschichtsprofessoren die Geschichte als eine des gesamten atlantischen Raums. Ihr roter Faden zieht sich von den ersten Siedlern an der Küste der späteren USA, die Durchsetzung des Kapitalismus in England durch die Abschaffung der Allmende (des Gemeineigentums) und darauf folgenden knallharten Strafen für Landstreicherei sowie die Verschiffung der überflüssigen Bevölkerung in die Kolonien, bis hin zu den Aufständen in Nordamerika, Irland und England gegen den sich durchsetzenden Kapitalismus.
Zentral geht es ihnen um den Widerstand der afrikanischen Sklaven, der städtischen Proletarier, der Schiffsmannschaften und Piraten sowie der Ureinwohner Amerikas. Wie jeder siebte Siedler in Virginia der protestantischen Arbeitsmoral zu entkommen versucht und zu den Indianern überläuft. Wie sich viele der Entflohenen als "bunt zusammengewürfelte multinationale, multikulturelle und multirassische Haufen" auf den "demokratischen Piratenschiffen" wiederfanden.
Etwa über zweieinhalb Jahrhunderte, von 1600 bis 1850, beobachten sie diese Kämpfe und teilen die Phasen in die für sie typischen Schauplätze ein: das Gemeineigentum, die koloniale Plantage, das Schiff und die Fabrik.
Doch so interessant die vielen mit unzähligen Quellen belegten Geschichten auch sind, was ist daran neu? Sind nicht gerade die deutschsprachigen Geschichtsschreibungen und Schulbücher voll von der amerikanischen Gegengeschichte, von den entlaufenen Sklaven, von freien Piratenrepubliken, von der nicht nur als bürgerlicher Aufstand gegen England zu interpretierenden "Boston Tea Party"?
Wer hat sich in seiner Kindheit nicht als Indianer geträumt, der sich tapfer den weißen Siedlern entgegenstellt?
Zu oft sind die Bilder der Autoren in einfachem Schwarz-Weiß gezeichnet, werden dem "bösen" Kapitalismus die "guten" Ureinwohner gegenübergestellt. Gibt es nicht auch noch andere Gründe als die geplante Freisetzung eines Proletariats für die Manufakturen, warum die Allmende sich nicht gegen den aufkommenden Kapitalismus behaupten konnte? Man denke nur mal daran, wie sorgfältig in einer Hausgemeinschaft mit den gemeinsamen Flächen oft umgegangen wird. Oder wie eine Flüchtlingsrepublik auf Barbados wegen einer Rattenplage unterging, was die Autoren immerhin auch erwähnen. Zumindest bei den vielen Aufständen auf dem Gebiet der späteren USA erkennen die beiden Autoren, dass diese Revolten auch zwischen "rivalisierenden Großmächten" stattfanden.
In seiner ähnlich angelegten "Geschichte des amerikanischen Volkes" erwähnt Howard Zinn zumindest, dass die schlimmsten Indianerschlächter Mitglieder der weißen Unterklasse waren. Auch Zinn hat die Tendenz, die Unterklassen zu romantisieren, aber Linebaugh und Rediker überbieten ihn. Es geht weit am Problem vorbei, Rassismus als nur von "außen" durch den Kapitalismus den "guten" proletarischen Massen implantiert darzustellen.
Warum ist es so schwierig, eine emphatische "Geschichte von unten" zu schreiben, die dieses "Unten" nicht zum "Guten" verklären muss? Warum fällt es vielen Historikern so schwer, Tzvetan Todorov zu folgen, der in "Die Eroberung Amerikas" den Siegeszug von Hermán Cortés durch Mexiko als einen Aufstand der unterdrückten Indigena-Völker gegen die Azteken mit Hilfe der Spanier darstellt?
Heutzutage ist es weniger die Aufgabe einer revolutionären Geschichtswissenschaft, "verborgene Geschichte" aufzudecken, als vielmehr die Prozesse und Dynamiken von Entwicklungen und Aufständen begreifbar zu machen, um daraus etwas zu lernen. Damit es eben keine Hydra bleibt, der jeder abgeschlagene Kopf wieder nachwächst, sondern damit "Unten" nicht "unten" bleibt und auch mal gewinnt.
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