Geschichtsbilder in der Ukraine: Der Krieg um den Krieg
Am 9. Mai drohen Konflikte zwischen ukrainischen Nationalisten und prorussischen Kräften. Denn das Land ist erinnerungspolitisch gespalten.
BERLIN taz | Die Gewalt in der Ukraine eskaliert. Sie frisst sich wie Säure in die soziale Textur und zerreißt in manchen Orten das selbstverständliche Vertrauen, dass man im Alltag nichts Lebensbedrohliches zu befürchten hat.
Geschichte ist umkämpftes Terrain in dem drohenden Bürgerkrieg. Gerade am 9. Mai, gerade auf dem Gebiet der Ukraine, das von 1930 bis 1945 von einem Gewaltorkan heimgesucht wurde, der mannigfache Traumatisierungen hinterlassen hat. Nach 1939 war die Ukraine Schauplatz der in dieser Region besonders brutalen deutschen Kriegsführung.
Anfang der 30er Jahre fielen drei Millionen vor allem ukrainische Zivilisten einer vom stalinistischen Terrorsystem künstlich verstärkten Hungersnot zum Opfer. In der Sowjetunion wurde dieses Verbrechen verschwiegen. Ukrainische Historiker tauften es in den 90er Jahren „Holomodor“, übersetzt „Hungertod“, in problematischer Anlehnung an den Holocaust. Manche Politiker deuteten die Hungerkatastrophe zum „ukrainischen Holocaust“ um.
Für viele in der Ostukraine ist der 9. Mai 1945, wie in Russland, Symbol einer identitätstiftenden historischen Erzählung: des alles überstrahlenden Sieges über die Nazis. Unter Putin ist der 9. Mai zum Zeichen der Größe Russlands stilisiert worden. Schattenseiten sind aus dem heroischen Entwurf getilgt: etwa die während des Kriegs weiterwütende stalinistische Gewaltherrschaft oder die Deportation von aus Deutschland zurückkehrenden sowjetischen Zwangsarbeitern in den Gulag. Die Geschichte wird patriotisch in Dienst gestellt. In dieses Bild passt, dass auf der Krim am Freitag russisches Militär paradiert. So wird Putins aggressive Politik 2014 mit dem Kampf der Sowjetunion gegen Hitler legitimiert.
Russische Staatsmedien schüren Ängste vor „Faschisten“, die in Kiew die Macht an sich gerissen hätten. Dies verfängt in Donezk, auch weil West- und Ostukraine erinnerungspolitisch anders ticken. Die Angst vor Faschisten im Westen sitzt im historischen Gedächtnis vieler Ostukrainer tief. Den Riss symbolisiert vor allem das schroff entgegengesetzte Bild des Nationalisten Stepan Bandera. In der Westukraine baute man in den 90er Jahren vielerorts Orten Denkmäler für Bandera, der als Unabhängigkeitskämpfer verehrt wird – im Osten gilt er als Nazikollaborateur.
Nationalheld und -feind Stepan Bandera
Bandera und die nationalistische OUN bekämpften in den 30er Jahren militant Polen und Russen. 1941 verbündete sich die OUN mit der einfallenden Wehrmacht gegen die Rote Armee, in der falschen Hoffnung, dass Hitler eine eigenständige Ukraine dulden würde. OUN und später die UPA waren an Massakern an Juden und polnischen Zivilisten beteiligt. Manche Aufrufe der OUN ähneln in der Agitation gegen „jüdischen Bolschewismus“ Nazipamphleten.
Der prowestliche Präsident Juschtschenko bedachte Bandera, trotz internationaler Proteste, 2010 mit der Titel „Held der Ukraine“. Juschtschenko nobilitierte den OUN-Kämpfer Roman Schuchewytsch, aber auch Sowjettreue. Dies war der gescheiterte Versuch, einen historischen Nationalkonsens durch reine Addition zu stiften. Unter dem prorussischen Präsidenten Janukowitsch wurde die Aufnahme von Bandera und Schuchewytsch in den nationalen Pantheon wieder zurückgenommen.
Wie aggressiv der ukrainische Nationalismus ist, demonstrierten am 9. Mai 2011 Aktivisten der Swoboda-Partei. In Lwiw verbrannten rechtsextreme Jugendliche rote Fahnen, pöbelten gegen Kriegsveteranen und skandierten: „Ehre der Ukraine! Ehre den Helden!“ Im ukrainischen Nationalismus erscheint Moskau als der Feind, der benötigt wird, um die eigene Nation als Opfergemeinschaft zu inszenieren.
Zwei historische Identitäten
So stehen sich zwei historische Identitäten gegenüber. Im Bandera-Kult wird, so der ukrainische Historiker Andrij Portnov, „die Mitwirkung der OUN an der nationalsozialistischen Judenvernichtung ausgeblendet“. Im gefeierten Bild des Großen Vaterländischen Krieges wird oft, mehr oder weniger offen, Stalin rehabilitiert.
Diese Retroinzenierungen schaffen binäre Zuordnungen. Sie sind Resonanzräume, in denen die Nachrichten vom Einsatz der Berkut-Schützen auf dem Maidan und vom Feuer in dem Gewerkschaftshaus in Odessa ihre radikalisierende Wirkung entfalten. Identity kills. Auf beiden Seiten. In Charkiw und Odessa wurden die offiziellen Gedenkfeiern zum 9. Mai abgesagt. Man fürchtet Gewalt zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstranten.
Das Durchschnittseinkommen in der Ukraine ist gut halb so hoch wie in Weißrussland, ein Drittel so hoch wie in Polen. Die Nachfrage nach dem heroischen Gestern ist auch Reflex von Verarmung und einem schrumpfenden Zukunftshorizont.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut