Geschichte einer Berliner Station: Honeckers Hauptbahnhof
Vor 30 Jahren wurde der Ostbahnhof in Hauptbahnhof umbenannt – seine Funktion erfüllte er nicht. Heute droht dem Bahnhof das völlige Aus.
Heimelig war es nicht. Als Ed, einer der Helden in Lutz Seilers Aussteigerroman „Kruso“, in Berlin ankam – „dem Ostbahnhof, der im neuen Fahrplan Hauptbahnhof hieß“ –, roch es nach Bratenfett. Und überall lungerten „verhuschte Gestalten“ herum, „die mit winzigen Signalen auf sich aufmerksam zu machen versuchten und gleichzeitig bemüht schienen, ihre Anwesenheit zu vertuschen“.
Mit dem Hinweis auf die anstehende Umbenennung des Bahnhofs lässt sich Eds Aufbruch nach Hiddensee in „Kruso“ auf das Jahr 1987 datieren. Auf jenes Jahr also, in dem Berlin seinen 750. Geburtstag feierte, fein säuberlich getrennt in einen kapitalistischen und sozialistischen Feiertag.
Während sich der Westteil der Stadt vor allem als Kulturmetropole zu verkaufen suchte, ging es im Osten vorrangig ums Bauen. Die Friedrichstraße sollte neu gestaltet werden, das Nikolaiviertel wurde als Altstadt verpackt, am Gendarmenmarkt sollte Großstadtflair erlebbar sein. Schließlich wurde am 15. Dezember 1987 die neue Bahnhofshalle am Ostbahnhof eingeweiht, der Bahnhof selbst wurde in Hauptbahnhof umbenannt. Nicht nur Leipzig hatte nun einen Hauptbahnhof, sondern auch Berlin – und der lag im Osten der Stadt.
Die Bauarbeiten liefen jedenfalls unter Hochdruck, meldete das Neue Deutschland im November unter der Überschrift „200 Kollektive für die Großbaustelle im Einsatz“: „Emsiges Treiben, Bauarbeiter und Gerüste beherrschen hier die Szene. Die endgültigen Konturen der Haupthalle, die zweieinhalb mal breiter als die alte Halle sein wird, sind zu erkennen.“
Als das neue Eingangsgebäude am 15. Dezember seine Türen öffnete, schrieb die Neue Zeit: „Ein neues Empfangs- und Abfertigungsgebäude des Berliner Hauptbahnhofs sowie weitere rekonstruierte Verkehrsanlagen wurden am Dienstag übergeben. Für die 50.000 Reisenden, die täglich diesen Knotenpunkt des Fern- und S-Bahn-Verkehrs passieren, stehen damit moderne Service-Einrichtungen zur Verfügung.“
Vielleicht hätte sich Ed, wäre er nach dem Fahrplanwechsel am 15. Dezember 1987 nach Hiddensee, seinem Aussteigerort, aufgebrochen, wohler gefühlt. 19 Fahrkartenschalter gab es nun, rund 1.000 Gepäckschließfächer sowie einen Frisiersalon und ein Zeitkino, wie die Bahnhofskinos in der DDR hießen.
Doch von einem „Knotenpunkt des Fernverkehrs“ konnte am neuen Hauptbahnhof kaum die Rede sein, sagt Jens Wieseke. „Mehr als ein paar Züge nach Warschau oder Moskau sind da nicht abgefahren“, sagt der Sprecher des Fahrgastverbands Igeb. „Viel wichtiger als der Ostbahnhof waren damals Lichtenberg und sogar Schöneweide.“ Doch der Ostbahnhof lag näher am Zentrum, und er hatte das Centrum-Warenhaus, das Ende der siebziger Jahre – unter anderem auch für Einkaufstouristen aus Polen – errichtet worden war. Vor allem aber konnte er auf eine facettenreiche Geschichte zurückblicken.
„Viele Straßen um den Schlesischen Bahnhof sind schlimm.“ Sie sind eine „öde, dürre Steinwüste“. (Hans Fallada in „Wolf unter Wölfen“)
„Es riecht nach Bier, Knoblauch, Käse und unausgelüfteten Menschen.“ (Julius Berstl in „Schlesischer Bahnhof“)
„[Berlin war die] Schleusenkammer in das alte, untergegangene Russland, aber auch Ausgangspunkt jeder Reise in die sowjetische Gegenwart.“ (Karl Schlögel in „Berlin. Ostbahnhof Europas“)
Der Ostbahnhof unterbietet „selbst das Aussehen polnischer Provinzbahnhöfe“. (Die westdeutsche Tageszeitung Die Welt, im Jahr 1955)
1842 war die Station als Frankfurter Bahnhof eröffnet worden, Karriere machte der Bahnhof aber erst 1881 nach dem Bau einer zweiten Halle und der Umbenennung in Schlesischer Bahnhof. Berlin wurde Metropole, und am Schlesischen kam die industrielle Reservearmee an. Friedrichshain wurde zum Armen- und Arbeiterviertel, aus dem sozial engagierte Schriftsteller wie Alfred Döblin ihre Geschichten schöpften.
Das alles gehörte natürlich zum kollektiven Gedächtnis des Arbeiter-und-Bauern-Staats, aber auch der Versuch, das Leben in dieser Ecke zu verbessern. Die „üble Gegend mit viel Elend und Kriminalität“, schreibt die Berliner Zeitung am 22. August 1987, habe sich „gemausert“: „Drei Häuser, denen man ihr Alter ansieht, stehen noch hinter dem Bahnhof in der heutigen Erich-Steinfurth-Straße. Ansonsten ist es ‚hintenrum‘ schon freundlicher geworden, das Warenhaus mit schöner Umgebung lädt zum Einkauf ein.“ Natürlich darf auch der Hinweis auf das Neue Deutschland nicht fehlen und die Druckerei, in der auch die Berliner Zeitung gedruckt wurde.
Schon unmittelbar nach dem Krieg war die zerstörte Empfangshalle wiederaufgebaut und 1950 eröffnet worden. Im selben Jahr wurde der Bahnhof in Ostbahnhof umbenannt. Von hier fuhren Züge nach Dresden und Leipzig, aber auch an die Ostsee. Nach dem Bau der Mauer verkehrten Zubringerzüge zwischen Zoologischem Garten und Ostbahnhof. Auch der Zug von Paris nach Moskau hielt hier.
Von der Neugestaltung im Norden mit vielen Neubauten war am Bahnhof selbst aber nichts zu spüren. Das Bahnhofsgebäude entsprach nicht mehr den Anforderungen, überdies hatte der Bau des Außenrings dafür gesorgt, dass mehr und mehr Züge von Lichtenberg und Schöneweide verkehrten. Der Ostbahnhof geriet ins Abseits.
Statt ihn aber zu einem Regionalbahnhof abzuwerten, wurde das Gegenteil in Angriff genommen. Das alte Bahnhofsgebäude wurde abgerissen und mit dem Bau der 90 Meter langen Halle mit drei Ebenen begonnen. Gleichzeitig wurde die Strecke bis zum März 1987 elektrifiziert. „Berlin, wie hast du dich verändert“, lautete der Titel der Reportage in der Berliner Zeitung vom 22. August 1987. Auch vom Fortgang der Bauarbeiten war die Rede: „Der erste Bauabschnitt des Ostbahnhofs – künftig Berliner Hauptbahnhof – geht seinem Ende entgegen. Und er wird schön.“
Bei so viel neuer Aufmerksamkeit durfte natürlich auch Erich Honecker nicht fehlen. Kurzerhand wurde der Hauptbahnhof zum Regierungsbahnhof, und der DDR-Regierungszug bekam das Gleis 1 zugewiesen, abseits der anderen Bahnsteige, an denen die regulären Züge verkehrten. Heute erinnert an Gleis 1 eine kleine Tafel an die zahlreichen Umbenennungen dieses Bahnhofs. Denn schon 1998 folgte der nächste Name – die Rückbenennung in Ostbahnhof.
Der Bau und die Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs konnten den Niedergang des vielleicht traditionsreichsten Bahnhofs Berlins also nicht aufhalten. 2016 zählte der Ostbahnhof noch 72.000 Fahrgäste, 2.000 weniger als Lichtenberg. „Einen Tod auf Raten“ nennt das Jens Wieseke. „Wir stellen uns die Frage, ob der Bahnhof überhaupt noch eine Zukunft hat.“
Die Frage ist berechtigt. Denn wie schon bei der literarischen Visite von Ed ist es heute im Ostbahnhof wenig anheimelnd. Seit dem Ausbau des Ostkreuzes zum neuen Umsteigeknoten und Regionalbahnhof hält nicht einmal mehr der RE2 am ehemaligen Hauptbahnhof. Und das Centrum Warenhaus, später Galeria Kaufhof, hat ohnehin seine Pforten geschlossen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?