Geschädigte Kleinanlegerin Brigitte Platzek: "Ich wollte keinen Riesenprofit!"
Brigitte Platzek ist Mutter von 18 Kindern. Seit eine Vermögensberatung ihre Altersvorsorge mit Lehman-Aktien verzockt hat, demonstriert sie jede Woche mit anderen Geschädigten.
Brigitte Platzek, ehem. Lehrerin f. Sonderpädagogik, Hausfrau u. Mutter v. 18 Kindern (2 leiblichen u. 16 Pflegekindern), geb. Mai 1942 in Berlin. Evakuierung mit Mutter u. Geschwistern n. Pommern, Rückkehr 1944 n. Berlin. Der Vater galt seit d. letzten Kriegstagen als verschollen. Die Mutter zögerte lange, bis sie ihn für tot erklären ließ. Sie brachte ihre drei Kinder alleine durch, mit Hilfe der Witwen- und Kriegswaisenrente. Brigitte Platzek machte 1961 Abitur, arbeitete 1 Jahr in einem Kinderheim u. begann 1962 eine dreijährige Sozialarbeiter-Ausbildung bei d. AWO, mit anschließendem Anerkennungsjahr i. d. Säuglingsfürsorge Hermsdorf. 1966 heiratete sie einen Sozialarbeiter, bekam ihr erstes eigenes Kind, nahm 1967 ihr erstes Pflegekind auf und bekam 1968 ihr zweites eigenes Kind. Im Laufe d. Zeit folgten die anderen Pflegekinder nach, mal waren es Kleinkinder, mal waren sie älter, mal war es ein Geschwisterpaar, meistens kamen sie aber einzeln. Ab 1968 lebte sie mit 10 Kindern (inkl. den eigenen) i. Albert-Schweitzer-Kinderdorf, Berlin-Gatow. 1972 Umzug d. Großfamilie ins eigene Haus in Frohnau. 1971 hatte sie nebenbei ein Studium f. d. staatl. Lehramt a. d. Pädagogischen Hochschule Berlin begonnen, Abschluss 1974/75. Der Mann verließ die Familie, danach Scheidung. Nach einer Pause zu Hause u. weiteren vier Semestern Sonderpädagogik wurde sie Lehrerin a. d. Schule f. Lernbehinderte i. Märkischem Viertel. Danach a. d. heilpädagogischen Schule d. Kinder- u. Jugendpsychiatrie Wiesengrund bis zu ihrer Pensionierung i. Jahr 2000. Eines ihrer Pflegekinder, heute ein junger Mann, lebt noch bei ihr.
Manchmal kann man betrachten - so am Beispiel von Frau Platzek - wie die Erschütterungen der Weltereignisse sich bis in einen weit entfernten stillen Winkel hinein auswirken.
Kurz vor dem Bankrott im September 2008 bekam die US-Bank Lehman Brothers noch eine Genehmigung für den lukrativen Uranhandel und hat zu Spekulationszwecken 230 Tonnen des zur Neige gehenden Materials gekauft. Seit der Explosion im japanischen Atomkraftwerk Fukushima am 12. März 2011 und dem drohenden Super-GAU "rauschten die Uranpreise in den Keller", so die Formulierung der Financial Times. Damit schwindet automatisch der Wert der Lehman-Konkursmasse und damit auch die Chance der vielen Kleinanleger - die vom Uranhandel gar nichts wissen -, eines Tages aus dieser Konkursmasse doch noch eine Entschädigung zu erhalten.
Auch Frau Platzek - die wir bei der Berliner Interessengemeinschaft der Lehman-geschädigten Kleinanleger kennen lernten - hoffte auf Entschädigung, als sie 2009 eine Forderung beim zuständigen Insolvenzgericht in New York angemeldet hat.
Elisabeth Kmölniger und ich besuchen sie in ihrem Haus in Frohnau und werden, obwohl ich mich im Datum geirrt habe und wir um einen Tag zu früh kommen, spontan und herzlich hereingebeten. Man merkt ihr immer noch die lässige Improvisationskunst an, über die eine allein verantwortliche Mutter von 18 Kindern verfügen muss. Im großen und stillen Wohnzimmer allerdings deutet nichts mehr auf das einstmals so belebte Haus hin. Der Flügel steht wie unberührt da, ein Esstisch blieb übrig und durch die große Glasscheibe blickt man in den weiten, noch winterlichen Garten, aus dem Sandkästen und Spielgerät längst verschwunden sind.
Frau Platzek schenkt uns Tee ein und sagt: "Ich gehe zwar jeden Donnerstag demonstrieren, vor der Commerz- und vor der Targobank, aber eigentlich nur aus Solidarität mit der Gruppe. Bei mir ist das anders als bei den anderen Geschädigten. Mich hat nicht eine Bank falsch beraten, sondern die Vermögensberatung hat Schuld. Die hätten für mich, weil's ja für die Altersvorsorge war, gar keine Risikopapiere kaufen dürfen. Es ist kompliziert, ich verstehe es ja selber kaum, aber ich versuche mal, Ihnen zu erklären, wie das kam.
Ich hatte vorher Geld angelegt, einen allmählich, über viele Jahre zusammen gesparten Betrag, hier bei der Volksbank, weil ich die in der Nähe hatte. Und da habe ich damals einen großen Verlust erlitten, ich glaube das war mit ,neuen Medien', oder ,Märkte', oder wie das hieß. Es war 2002, ich müsste nachsehen. Ich habe mich nie um Bankgeschäfte gekümmert, weiß gar nicht, worauf das zurückzuführen war, dieser Verlust. Weil einfach mein Leben anders verlaufen ist und die Schwerpunkte anders gesetzt waren. Ich hatte aus familiären Gründen einfach gar keine Zeit, mich da reinzuarbeiten. Deswegen habe ich das dann der Volksbank weggenommen und bin zu einer privaten Vermögensberatung gegangen. Auf die bin ich durch unsere Frauengruppe hier gekommen, jemand dort hatte sie mir empfohlen. Meine Aktienfonds und das alles wurden auf diese Vermögensberatung übertragen. Und es wurde dann auch die Bank gewechselt. Denn eine Vermögensberatung ist ja keine eigene Bank, sie arbeiten mit einer Bank zusammen, die dann die Anweisungen ausführt und wo man sein Depot hat. Das war damals so ein Wert von etwas über 300.000 Euro, ich müsste nachgucken. Die Vermögensberatung hat dann jedenfalls alles für mich übernommen. Moment, ich hole mal die Ordner, damit ich nachsehen kann, ich habe das ja nicht alles im Kopf."
Sie kommt mit zwei dicken Ordnern, blättert, liest vor und legt sie seufzend zur Seite. "Sehn Sie, da habe ich das abgeheftet, Depotübersicht, Allianz, Metro, Hannover-Hypotheken, Thyssen, Krupp, Daimler, Bechstein, Euro-Stock usw. Moment, wo ist denn Lehman? Ach hier! Hier die Vermögensübersicht. Und hier hinten sind die Schreiben der Vermögensberatung. Also das war 2001, als ich da hin ging. Ich hatte denen gleich beim ersten Gespräch gesagt, dass ich nichts verstehe von diesen Banksachen. Dass ich aber das Geld sicher angelegt haben will, weil ich es für die Altersversorgung brauche und es auch an meine vielen Kinder weitergeben will. Ich hatte den Eindruck, ich kann den Leuten mein Vertrauen schenken und habe der Vermögensverwaltung freie Hand gegeben. Es wurde abgemacht, per Vollmacht, dass sie, als Fachleute sozusagen, auf eigene Initiative für mich anlegen. So, wie sie es für richtig halten.
Ich wurde ab und zu informiert über Käufe und Verkäufe, wobei ich nie über einen Kauf beraten worden bin, oder Verkauf. Und man hat ja heute nichts Materielles mehr in der Hand, so wie in früheren Zeiten, als es diese gedruckten Aktien mit den Bildern gab. Man konnte mal alte bei Lidl kaufen, daher kenne ich die. Ich habe nur meine Auszüge und Abrechnungen gekriegt und alles gesammelt. Hier, in diesen weißen Ordnern. Die haben sie mir jedes Jahr gegeben, mit einer Registratur, damit ich weiß, wo ich was abzuheften habe. Das hört sich jetzt ganz dumm an, aber so war es. Ich habe da nie groß was kontrolliert, sondern darauf vertraut, dass alles seine Ordnung hat, dass es sicher angelegt wird.
Lehman-Zertifikate für 70.000 Euro
Nur einmal habe ich selbst einen Vorschlag gemacht, und darum gebeten, dass sie, obwohl sie mir davon abgeraten haben, 100 Bechstein-Aktien kaufen. Meine Kinder haben ja immer viel Musik gemacht. Unter Bechstein konnte ich mir wenigstens was vorstellen. Was ich da verdient habe, war nicht so doll, aber ich hatte auch keinen Verlust. Ich wollte ja gar nicht den Riesenprofit! Das behaupten sie heute, um zu begründen, warum sie diese Lehman-Zertifikate gekauft haben für mich. 2007 bin ich so zu diesen Lehman-Papieren gekommen, ohne zu wissen, was da gekauft wurde. Ich bekam nur die Nachricht von der Bank, dass sie auf Anweisung der Vermögensberatung die Aktien, oder Zertifikate oder was, gekauft haben, schrittweise. Insgesamt war das dann für 70.000 Euro. In der Steuererklärung war das unter ,ausländisch' eingetragen. Aber dass das in Holland war, eine Firma, die da vorgeschaltet wurde, habe ich auch erst später erfahren.
Ja und diese 70.000 Euro, die habe ich auf einen Schlag verloren, im September 2008, bei der Pleite der Lehman Bank. Ich habe den Kontoauszug dann von meiner Bank geschickt bekommen, da stand bei Lehman überall eine Null! Ein viertel Jahr vorher bekam ich von der Vermögensberatung noch einen Brief. Sie blättert und liest vor: ,Sehr geehrte Frau Platzek. Wir gehen davon aus, dass die Krise noch nicht ganz ausgestanden ist, halten aber Verkäufe im größeren Stil zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr für angemessen. Wir schlagen daher vor, die Positionen auszusitzen.' Und der nächste Brief ist dann vom September: ,Sehr geehrte Frau Platzek. Nun ist es also doch passiert. Was wir noch in unserem Schreiben vom 30.06.2008 nicht für möglich gehalten hätten, ist wahr geworden. Aus einer letztlich regelbaren Krise ist durch zögerliches Verhalten, unnötige politische Diskussionen und schlichte Fehlentscheidungen die größte Finanzkrise in der Nachkriegsgeschichte geworden. Wir konstatieren den vollständigen Zusammenbruch des Interbankengeldmarktes. Was fängt ein Berater in Sachen Kapitalmärkte mit einem Szenario an, in dem die Portfolios zusammengeschmolzen sind und der Glaube an die Kapitalmärkte bei vielen Anlegern zerstört ist? Wir sind dabei, so schnell wie möglich, eigene Szenarien zu entwickeln, wie wir die Portfolios unserer Anleger aus den erreichten Tälern heraussteuern können. Mehr denn je glauben wir deshalb für die Zukunft an Diversifikation in Sachwerte, in Produktivkapital und in Geldwertforderungen. Berlin, den 21. Oktober 2008.' Und schaun Sie mal, die schwungvollen Unterschriften.
Ich bin dann wieder weggegangen von dieser Vermögensberatung. Habe eine Klage laufen wegen ,Schadensersatz aus fehlerhafter Anlageberatung', denn sie hätten mir, wie gesagt, für die Altersversorgung ja gar keine Risikopapiere kaufen dürfen! Das habe ich alles erst in der Initiativgruppe der Geschädigten erfahren. Jetzt bin ich bei einer Direkt- Bank, die haben beim Thema Vermögensberatung in Finanztests gut abgeschnitten, schrieb der Tagesspiegel.
Zum Glück war ich wenigstens nicht vollkommen mittellos. Es hat mich nicht so hart getroffen wie manche Leute, von denen ich gehört habe. Bei mir sind auch andere Prioritäten, nicht nur, was Geld überhaupt anbelangt. Ich kriege meine Pension inzwischen von meinem Lehrergehalt, es ist nicht sehr viel, aber ich kann davon leben. Zumal ich ja bald alleine bin, wenn mein letzter Sohn das Haus verlässt."
Wir bitten Frau Platzek, uns zu erzählen, wie sie zu dieser Unmenge von Kindern kam.
"Na ja, es waren nie mehr als 10 gleichzeitig. Es kam auf Betreiben meines Mannes eigentlich, er kam aus einer kinderreichen Familie. Ich war von meiner Mutter her daran gewöhnt, man bleibt bei den Kindern zu Hause. 1966 bekam ich mein erstes Kind, unseren Sohn. Aber für ein einziges Kind zu Hause bleiben? Da sagte meine anleitende Sozialarbeiterin in der Säuglingsfürsorge: ,Dann nehmen sie doch noch eins dazu! Wir haben hier einen Vierjährigen, ohne Kontakt zur Mutter.' Und den haben wir dann 1967 als Pflegekind genommen, obwohl sich inzwischen herausgestellt hatte, dass ich wieder schwanger war. Und Januar 1968 wurde unser zweites leibliches Kind, unsere Tochter, geboren. Ich hatte noch ein bisschen Vertretung gemacht, aber dann bin ich zu Hause geblieben. Wir haben damals natürlich nicht geplant, das wir mal so viele haben würden. Aber eben durch meine Kontakte kam es dann dazu, dass die immer fragten: ,Könnt ihr nicht den nehmen, da ist die Mutter plötzlich verstorben. Man kannte ja die Fälle und Schicksale und sie tun einem dann ja auch leid. Man will sie nicht in Heimen untergehen lassen. Sozusagen über Nacht kam ein Geschwisterpaar dazu wegen sexuellem Missbrauch. Da waren es plötzlich sechs.
Eine Art Vorzeigefamilie
In der kleinen Dreizimmerwohnung wurde es zu eng, und da war eine Annonce im Tagesspiegel, dass ein Albert-Schweizer-Kinderdorf in Gatow Eltern sucht. Und da sind wir dann mit den sechs Kindern eingezogen im Sommer 1968. Wir hatten dort ein Haus. Sie waren ausgerichtet auf acht Kinder - die eigenen wurden nicht mitgerechnet -, also bekamen wir noch vier dazu und hatten dann plötzlich zehn Kinder. Unsere Pflegekinder, die wir mitgebracht hatten, verloren dort ihren Status und wurden zu betreuten Heimkindern, vom Bürokratischen her. Für die acht ,Heimkinder' bekamen wir jeden Monat Geld. Ich musste mit 2.000 Mark im Monat auskommen, nicht nur für Ernährung, auch Kleidung, Spielsachen, Waschpulver, Reparaturen, Fensterputzer usw. musste ich davon bezahlen. Das war fast unmöglich. Wir hatten immer Praktikanten, die fragten, welches sind denn ihre eigenen Kinder? Ich sagte, raten sie mal. Fast immer lagen sie falsch. Wir waren durch unsere Größe so eine Art Vorzeigefamilie. Wir hatten auch eine sehr gute junge Hauswirtschafterin, die konnte wunderbar mit den Kindern, hat Marzipankartoffeln gemacht und alles. Sie war übrigens vorher bei der Schauspielerin Anita Kupsch - die kennen sie vielleicht aus den 80er Jahren, da hat sie die Arzthelferin in der Fernsehserie "Praxis Bülowbogen" gespielt.
Es war an sich eine wunderbare Zeit, wäre da nicht dieser ganze Verwaltungskram gewesen. Ich war nur dabei, das Haushaltsbuch zu führen. Mein Mann konnte mir da auch nicht groß helfen, er zählte gar nicht mit. Bezahlt wurde nur ich, die Mutter. Er ging tagsüber zur Arbeit, war ja Sozialarbeiter, und kam abends nach Hause. Eben wie ein ganz normaler Familienvater. Das wurde dort so gefordert. Und nach etwa drei Jahren wurde dieses Geschwisterpaar - gegen meinen Wunsch - wieder zum Vater gegeben. Der war ein hohes Tier, der mit dem sexuellen Missbrauch, ja, er hat wieder geheiratet. Die siebte Frau, und die Rückkehr der Kinder durchgesetzt. Wir hätten dann im Kinderdorf zwei neue Kinder dazunehmen müssen, aber da haben wir gesagt, das widerstrebt uns, wir wollen Familie sein und nicht gleich die Betten, die noch warm sind, wieder auffüllen! Das war für uns der Grund, das Kinderdorf zu verlassen. Wir haben das Haus in Frohnau gebaut, 1972 sind wir dann hier eingezogen, mit allen unseren acht Kindern.
Ach so, ich habe, noch im Kinderdorf, ein Pädagogikstudium an der PH aufgenommen. Das konnte ich gut am Vormittag machen, wenn die Kinder untergebracht waren. Hier habe ich das fortgeführt und 1974/1975 beendet.
Zum Glück habe ich das gemacht, denn mein Mann hat mich dann so zwei Jahre nach dem Einzug in unser Haus verlassen. Er hat beim Sozialamt gearbeitet und wollte abends seine Ruhe. Ich weiß noch, ich musste eines der Kinder zur Chorprobe fahren und mein Mann sollte mich vertreten beim Elternabend. Er wollte nicht und ich konnte nicht. Als ich zurückkam, war er ausgezogen. Einfach so. Er war völlig überfordert und auch psychisch krank. Einmal kam er zurück, das ging aber nicht gut. Sogar die Kinder wollten ihn nicht mehr. Ich habe abends noch Wäsche zusammengelegt, da kam die Kleine, weinte und sagte: ,Der Papa soll wieder weggehen.' Wir haben uns dann scheiden lassen. Viel hatte sich eigentlich nicht geändert, denn ich habe ja vorher schon fast alles alleine gemacht.
Das Jugendamt hat natürlich nachgefragt, ich war dort zu einem Gespräch, aber die kannten mich ja gut, wussten, ich habe es bisher auch alleine bewältigt, als er noch zu Hause wohnte. Also es gab damals nie ein Problem mit dem Jugendamt. Es hat mich ein Lächeln gekostet, sie haben das Geld bewilligt, wenn was kaputt gegangen war zu Hause, wenn eine Chorreise nach Japan gemacht wurde. Die Zusammenarbeit war sehr gut. Dann war ich also eine Weile zu Hause bei den Kindern, es wurde aber finanziell etwas schwierig. Ich bekam neben dem Pflegegeld so eine Art Erziehungsgeld, eine Vergütung pro Kind. Aber ich wollte unbedingt mein eigenes Einkommen haben. Nicht, dass mir jemand vorwirft, ich würde vom Pflegegeld meiner Kinder leben. Darum ging es mir nie, ich wollte mit den Kindern einfach nur Familie sein. Der Direktor einer Hauptschule, wo ich mal Praktikum gemacht hatte, war inzwischen Schulrat. Durch seine Vermittlung bekam ich dann sehr schnell eine Stelle an der Sonderschule für Behinderte im Märkischen Viertel und habe meine 2. Lehrerprüfung gemacht. Mein Direktor hat mich dann überredet, noch eine Sonderschulausbildung zu machen. Ich wurde vom Unterricht freigestellt und habe noch vier Semester Sonderpädagogik drangehängt.
Alles nebenbei, am Vormittag, wenn die Kinder ohnehin in die Schule gingen. Die waren ja nun auch schon größer. Aber es kamen im Laufe der Zeit immer noch welche hinzu. Ums Putzen und Kochen musste ich mich nicht kümmern, wir hatten unsere Haushälterin mitgenommen aus dem Kinderdorf. Wenn mal eins krank wurde, war jedenfalls immer jemand da. Nachmittags habe ich mit den Kindern Aufgaben gemacht. Also ich war sieben Tage die Woche rund um die Uhr beschäftigt. Ich hatte nie die Zeit, jemals allein eine Kur oder Erholungsferien zu machen. Aber ich habe es auch nicht vermisst. Meine Erholung waren eigentlich meine Kinder. Das waren schon prima Kinder. Wir haben zusammen Reisen gemacht, nach Finnland und Ungarn, mit dem Jugendherbergswerk. Auch privat, ins Disneyland nach Paris, mit dem Bus. Und sogar zwei Schiffsreisen haben wir gemeinsam gemacht. Sie hatten viel Freiraum und Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln.
Studium für eigene Einkommen
Ich bin dann, als ich die Sonderschulausbildung fertig hatte, in den ,Wiesengrund' gegangen. Da war einerseits eine Klinik für Kinderpsychiatrie und daneben eine heiltherapeutische Abteilung, also für die Zeit danach, wo erst mal die Kinder gesammelt wurden, bis sie nach Hause kamen oder in ein Heim. Für den ganzen Komplex gab es eine eigene Heimschule. Da hatten wir also alle Kinder, von der 1. bis zur 10. Klasse, wir hatten sogar Gymnasiallehrer. In der Wiesengrundschule habe ich dann gearbeitet bis zu meiner Pensionierung, 2001 war das, glaube ich. Und bis dahin waren dann allmählich auch alle Kinder aus dem Haus, bis auf einen, der heute noch da ist. Und meinen sie, als 2007 mein 40-jähriges Jubiläum als Pflegemutter war, dass das Bezirksamt da mal irgendwas gemacht hätte? Nein! Zum 20-jährigen Jubiläum hatte man mir noch einen KPM-Teller als kleine Anerkennung geschenkt.
Ist mir nun auch egal. Wichtig waren mir nur meine Kinder. Alle. Ich habe nie einen Unterschied zwischen meinen eigenen und meinen Pflegekindern gemacht. Ich war zu allen gleich, war konsequent, aber nicht streng. So viele Geschwister erziehen sich sozusagen gegenseitig. Die Kinder untereinander - wir hatten immer mehrheitlich Jungs - sind gut miteinander umgegangen, bis auf so die üblichen kleinen Streitereien. Ich habe nie Zwang ausgeübt. Zwang hatten viele schon genug erlebt. Sie hatten irgendwie eine gute soziale Kompetenz, fast alle Kinder waren Vertrauensschüler. Wo es in anderen Familien Probleme gibt, mit Hausaufgaben, Tisch decken usw., das wurde bei uns einfach so gemacht. Jeder hat was beigetragen, hat geholfen und alles war schnell fertig. Auch die Gartenarbeit. Wir hatten ein Schwimmbecken im Garten, da haben sie schwimmen gelernt und konnten toben im Sommer. Es war die Aufgabe der Jungs, das sauber zu halten. Inzwischen ist es zugeschüttet. Samstags hat der Älteste eingekauft und am Wochenende war er mit Kochen dran. Wochentags hatten wir ja die Wirtschafterin, und ich habe in der Schule unterrichtet, danach war ich für alle da. Also die Kinder waren wirklich Kinder, hatten ihre Freunde, ihren Sport, ihre Musik.
Musik und Pädagogik haben bei unserer Familie immer einen großen Stellenwert gehabt. Alle meine Kinder, bis auf eines, haben mindestens ein Musikinstrument spielen gelernt. Wir alle haben uns viel Mühe gegeben mit dem Musikunterricht und mit dem Üben. Mein Mann hat den Grundstock gelegt, er hat Geige gespielt, aber dann war er ja weg. Die Kinder, die später kamen, haben es bei den anderen gesehen und wollten das dann auch. Einige spielten Geige, mehrere spielten Klavier, einen Trompeter hatten wir, Altflöte, Cello, zwei waren darüber hinaus auch noch im Staats- und Domchor - also das ist ein ganz alter und sehr renommierter Berliner Knabenchor. Dann gab es aber gleichzeitig natürlich auch den Fußballverein usw. neben der Musik. Aber insgesamt habe ich den Eindruck, dass besonders die Musik den Kindern sehr geholfen hat, ihre schlechten Erfahrungen als Kleinkinder halbwegs zu bewältigen. Zu meinem 50. Geburtstag haben meine Kinder für mich Leopold Mozarts Kindersymphonie aufgeführt. Ganz professionell. Stellen Sie sich das mal vor, es war ihre eigene Idee. Ich fühlte mich ungeheuer geehrt. Es war beglückend, diese Kinder zu haben.
Sie haben alle ein ganz schweres Schicksal gehabt. Aber sie haben aus ihren Möglichkeiten sehr viel gemacht. Der H. zum Beispiel, mein erstes Pflegekind, war vorher in fünf verschiedenen Kinderheimen, war schwer hospitalisiert und galt als geistig behindert. Aber wir waren naiv und haben gesagt, nö! Das waren die 60er Jahre, alles war möglich! Der hat das Neue aufgesogen wie ein Schwamm und hat innerhalb kurzer Zeit riesige Fortschritte gemacht. War in der Schule gut, hat Cello gelernt und Klavier, war im Chor. Hat dann später selbst mehrere Chöre übernommen. Heute ist er in einer leitenden Stellung.
Ein anderer, der M., der war auch ganz musikalisch. Er bekam leider mit Anfang zwanzig noch eine Epilepsie, unter der er sehr gelitten hat. Er war von klein auf lernbehindert, aber sehr fleißig. Wir haben zusammen Gedichte und anderes geübt, indem wir den Text einfach zu einer bekannten Melodie gesungen haben. Er wollte immer arbeiten, hat dann eine Fleischerlehre gemacht und am Ende sogar im zweiten Anlauf seine Gesellenprüfung geschafft. Jeden Abend haben wir dafür gelernt.
Oder ein Mädchen, das wir im Kinderdorf bekommen haben mit fast 14. Eine ganz Liebe. Sie hat Realschulabschluss gemacht und wurde Erzieherin. Heute ist sie Leiterin einer Kindereinrichtung.
Das sind jetzt nur ein paar Beispiele. Es hat sich gezeigt, die, die bis zur Selbstständigkeit bei mir waren beziehungsweise ihre Ausbildung abgeschlossen haben, die haben später ihren Weg gemacht. Mit den meisten habe ich regelmäßig Kontakt.
Meine eigenen Kinder haben auch ihren Weg gemacht, meine Tochter hat Musik studiert, und mein Sohn ist Sozialversicherungs-Fachangestellter im öffentlichen Dienst.
Der wahrscheinlich anstrengendste Junge von allen ist D., der jetzt mit 24 noch bei mir lebt. Er kam aus dem Wiesengrund. Aus dem Wiesengrund haben wir zwei Kinder aufgenommen. Er war damals sechs und ein ganz Armer. Ich konnte ihn erst mit neun einschulen lassen. Bei der Schulpsychologin gab es so eine Babypuppe im Puppenbett. Da fütterte er die Puppe durch die Gitterstäbe hindurch und ich sagte: ,Nimm doch das Baby auf den Arm.' Aber er kannte das nur so. Es hatte sich dann zufällig herausgestellt, die Eltern haben die Kinder total vernachlässigt und verwahrlosen lassen. Die wurden alle drei in einem einzigen Gitterbett eingesperrt, Deckel drauf und fertig. Da saß der D. drin mit seinen kleineren Brüdern, die fast noch Babys waren, und mit denen er auch nicht kommunizieren konnte. Er hat sich durch Treten und so was zur Wehr gesetzt. Also grauenhaft!
Pflegesohn D. aus Verwahrlosung gerettet
Wie er in die Wiesengrund-Klinik kam, weiß ich jetzt gar nicht, jedenfalls haben sie sich gewundert, warum der Junge keine ausgebildeten Muskeln hat. Durch dieses Eingesperrtsein konnte er mit sechs Jahren, als ich ihn nahm, nicht laufen und nicht sprechen. Er wollte entweder auf meinem Schoß sitzen, oder er hat eine Spur der Verwüstung hinter sich gelassen. Er war immer sehr schwierig und ist es noch. Er macht alles von jetzt auf gleich, wenn es ihm einfällt, fährt er mit der Bahn nach Ludwigslust, weil ihm der Name gefällt. Ich musste ihn sogar mal aus Kassel abholen oder aus Cottbus. Er muss durchweg kontrolliert werden, ich muss ihn mit allem versorgen. Er kann nicht selbstständig leben. Aber ich schaffe es auf Dauer nicht. Demnächst wird er in ein Heim nach Bayern gehen.
D. spielt als einziger kein Instrument, er hat es mit Klavierspielen versucht und konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Aber mit ihm können sie ins Konzert gehen, in die Oper. Er liebt die Oper und er kennt sich aus, kann zum Beispiel - rein vom Hören her - die russische Opernsängerin Anna Netrebko von anderen Sopranistinnen unterscheiden. Oder auch in der Kunst kennt er sich aus, mag Picasso. Aber das ist alles nur angelernt, da ist ansonsten keine Empathie. Die hat man ihm zerstört. Durch diese Misshandlungen ist sehr viel kaputt gegangen.
Er ging in eine Schule für geistig Behinderte und die haben es eigentlich gut geschafft. Da war er bis ungefähr 21 und jetzt arbeitet er in einer Werkstatt für geistig Behinderte, ganz hier in der Nähe. Er kann mit Geld nicht umgehen, kauft Babyklappern oder sonst einen Unsinn. Ärger habe ich aber besonders mit dem Amt. Er bekommt Grundsicherung. Grade jetzt war es so, dass D. fünf Monate gearbeitet hat, ohne Geld zu verdienen. Sie hatten das vergessen zu überweisen bei der Behindertenwerkstatt. Dann haben sie alles auf einmal überwiesen, und das hat, bis auf wenige Cent, das Sozialamt einbehalten, weil es ja eigenes Einkommen war, das auf die Grundsicherung angerechnet wird.
Demnächst, wie gesagt, geht er weg, und er will auch weg! Was ich machen werde, wenn ich alleine bin? Vielleicht mache ich eine Frauenwohngemeinschaft auf? ( Sie lacht). Und ich kümmere mich ja noch um den dementen Herrn Hausmann hier, er war Professor für Mathematik und Physik und ist der Neffe von Manfred Hausmann. Mit dem mache ich Arztbesuche usw. Und dann ist da das alte Ehepaar in der Nachbarschaft, dem ich helfe. Er hat Alzheimer und sie hat MS. Unlängst ist er noch mit dem Auto vorn bis zum Platz gefahren mit ihr zum Einkaufen. Sie hat immer gesagt, nun rechts, nun links, hier einparken. Das ging automatisch. Aber das ist zu gefährlich! Ich habe ja ein Auto und bringe ihnen mit, was sie so brauchen.
Aber einsam wird man nicht, wenn man so viele Kinder hat und 14 Enkelkinder. Die wissen gar nichts von dem Geld. Einige verdienen nicht so üppig, die können Unterstützung gut brauchen. Deshalb kämpfe ich auch um das Geld für die zu Unrecht gekauften Lehman-Papiere. Ende März ist die Verhandlung, aber viel Hoffnung habe ich leider nicht."
taz lesen kann jede:r
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