Gerichtsverhandlung über Pressefreiheit: Er will ein Verbot des Verbots
Der Journalist Arne Semsrott hat im laufenden Verfahren illegalerweise Gerichtsbeschlüsse veröffentlicht. Er will den entsprechenden Paragrafen kippen.
Wird das Verfahren eingestellt, kann Semsrott nach Hause gehen. Dann muss er weder eine Geldstrafe zahlen noch bis zu ein Jahr in Haft. Das ist das mögliche Strafmaß für sein Vergehen: Semsrott hatte im August 2023 drei Gerichtsbeschlüsse aus einem laufenden Verfahren gegen Aktivist*innen der Letzten Generation online gestellt. Das ist – solange ein Gerichtsverfahren noch läuft – nach Paragraf 353d Nr. 3 des Strafgesetzbuches verboten. Semsrott hält den Paragrafen aber für verfassungswidrig und will, dass er abgeschafft wird. Deshalb will er keine Einstellung des Verfahrens. Semsrott will vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.
Veröffentlicht hatte Semsrott drei Beschlüsse im Zusammenhang mit Ermittlungen zur Letzten Generation. Das Gericht hatte darin Hausdurchsuchungen bei den Klimaktivist*innen, die Abschaltung der Webseite und das Abhören des Pressetelefons der Gruppe angeordnet.
Das seien sehr große Eingriffe in die Grundrechte, findet Semsrott. Im Verhältnis dazu habe das Gericht die Begründungen für sein Handeln sehr kurz gefasst. Meinungs- und Pressefreiheit habe das Gericht nicht ausreichend berücksichtigt. Nachdem über den Fall breit öffentlich diskutiert worden war, wollte Semsrott Transparenz schaffen und veröffentlichte die Dokumente.
Hier sieht alles ungewohnt aus? Stimmt, seit Dienstag, 15.10.2024, hat die taz im Netz einen rundum erneuerten Auftritt. Damit stärken wir, was die taz seit Jahrzehnten auszeichnet: Themen setzen und laut sein. Alles zum Relaunch von taz.de, der Idee dahinter und der Umsetzung konkret lesen Sie hier.
Was sich geändert hat
„Ich gebe zu, dass ich die Beschlüsse veröffentlicht habe, und mir war bewusst, dass es den Paragrafen gibt“, sagt er zu Beginn der Hauptverhandlung am Landgericht Berlin. Das Verbot von amtlichen Dokumenten während laufender Verfahren hält Semsrott für nicht mehr zeitgemäß: Seit 1975, als der Paragraf eingeführt wurde, habe sich das Medienumfeld stark gewandelt. Es gebe dank Internet nicht mehr wenige Medien, die als Gatekeeper fungierten, sondern eine Fülle an Medienorganen, darunter viele unseriöse, die Falschmeldungen verbreiteten.
Um in diesem Dschungel an Informationen Transparenz zu bieten und allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Bild zu machen, müssten Originaldokumente einsehbar sein. Zumal sich bei der Zusammenfassung von juristischer Fachsprache leicht Fehler einschlichen. Wortwörtliche Zitate – auch sie sind nach 353d verboten – könnten dies verhindern und die Glaubwürdigkeit von Medienerzeugnissen erhöhen.
Richter Meyer ist der Argumentation wohl nicht ganz abgeneigt. „Wenn Grundrechte im Spiel sind, kommt es immer auf eine Abwägung an“, sagt er. Oft müssten mehrere Grundrechte miteinander abgewogen werden, und so sei es auch in diesem Fall. Meinungs- und Pressefreiheit stünden dem Recht auf ein faires, geordnetes Verfahren gegenüber, in dem weder Richter noch Schöffen von der Medienberichterstattung beeinflusst würden. Beschuldigte müssten geschützt werden.
Semsrott hatte das Einverständnis der Beschuldigten eingeholt – und ihre Namen geschwärzt. Eine geladene Sachverständige ist Franziska Oehmer-Pedrazzi, Professorin für Kommunikationswissenschaften in der Schweiz. Sie forscht zu Medien und Justiz. Vor Gericht gibt sie an, Studien zufolge hätten Medienberichte nur einen geringen Einfluss auf Gerichtsurteile. Ein Einfluss von Originaldokumenten oder wörtlichen Zitaten sei nicht untersucht worden.
Dem Staatsanwalt leuchtet die Argumentation von Semsrott und Anwält*innen offenbar nicht ein, hält das Vergehen aber für gering. Semsrott habe sich schuldig gemacht, sei aber geständig und habe keine Sensationslust befriedigen wollen, sondern öffentliches Interesse. Er halte daher eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 50 Euro für angemessen, erklärte er im Schlussplädoyer.
Das Urteil soll am Freitag fallen. Semsrott will, dass der Richter den Fall direkt ans Bundesverfassungsgericht überträgt. Das wird er voraussichtlich nicht tun. Dann braucht Semsrott einen Schuld- oder auch einen Freispruch. Bei letzterem könnten sich Journalist*innen künftig auf die Rechtsprechung in diesem Fall beziehen. Wird Semsrott schuldig gesprochen, will er vor den Bundesgerichtshof und wenn notwendig vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland