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Gerichtsverhandlung über PressefreiheitEr will ein Verbot des Verbots

Der Journalist Arne Semsrott hat im laufenden Verfahren illegalerweise Gerichtsbeschlüsse veröffentlicht. Er will den entsprechende Paragrafen kippen.

Arne Semsrott (rechts) mit seinen Anwälten vor dem Berliner Landgericht am 16.10.2024 Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Berlin taz | „Wir können uns vorstellen, das Verfahren einzustellen“, sagt Richter Bo Meyer und blickt Richtung Anklagebank. Dort sitzt am Mittwochnachmittag neben dem Beschuldigten, dem Journalisten und Gründer der Transparenzplattform Frag den Staat, sein Verteidiger Lukas Theune und schüttelt den Kopf.

Wird das Verfahren eingestellt, kann Semsrott nach Hause gehen. Dann muss er weder eine Geldstrafe zahlen noch bis zu ein Jahr in Haft. Das ist das mögliche Strafmaß für sein Vergehen: Semsrott hatte im August 2023 drei Gerichtsbeschlüsse aus einem laufenden Verfahren gegen Ak­ti­vis­t*in­nen der Letzten Generation online gestellt. Das ist – solange ein Gerichtsverfahren noch läuft – nach Paragraf 353d Nr. 3 des Strafgesetzbuches verboten. Semsrott hält den Paragrafen aber für verfassungswidrig und will, dass er abgeschafft wird. Deshalb will er keine Einstellung des Verfahrens. Semsrott will vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Veröffentlicht hatte Semsrott drei Beschlüsse im Zusammenhang mit Ermittlungen zur Letzten Generation. Das Gericht hatte darin Hausdurchsuchungen bei den Kli­mak­ti­vis­t*in­nen, die Abschaltung der Webseite und das Abhören des Pressetelefons der Gruppe angeordnet.

Das seien sehr große Eingriffe in die Grundrechte, findet Semsrott. Im Verhältnis dazu habe das Gericht die Begründungen für sein Handeln sehr kurz gefasst. Meinungs- und Pressefreiheit habe das Gericht nicht ausreichend berücksichtigt. Nachdem über den Fall breit öffentlich diskutiert worden war, wollte Semsrott Transparenz schaffen und veröffentlichte die Dokumente.

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Was sich geändert hat

„Ich gebe zu, dass ich die Beschlüsse veröffentlicht habe, und mir war bewusst, dass es den Paragrafen gibt“, sagt er zu Beginn der Hauptverhandlung am Landgericht Berlin. Das Verbot von amtlichen Dokumenten während laufender Verfahren hält Semsrott für nicht mehr zeitgemäß: Seit 1975, als der Paragraf eingeführt wurde, haben sich das Medienumfeld stark gewandelt. Es gebe dank Internet nicht mehr wenige Medien, die als Gatekeeper fungierten, sondern eine Fülle an Medienorganen, darunter viele unseriöse, die Falschmeldungen verbreiteten.

Um in diesem Dschungel an Informationen Transparenz zu bieten und allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Bild zu machen, müssten Originaldokumente einsehbar sein. Zumal sich bei der Zusammenfassung von juristischer Fachsprache leicht Fehler einschlichen. Wortwörtliche Zitate – auch sie sind nach 353d verboten – könnten dies verhindern und die Glaubwürdigkeit von Medienerzeugnissen erhöhen.

Richter Meyer ist der Argumentation wohl nicht ganz abgeneigt. „Wenn Grundrechte im Spiel sind, kommt es immer auf eine Abwägung an“, sagt er. Oft müssten mehrere Grundrechte miteinander abgewogen werden, und so sei es auch in diesem Fall. Meinungs- und Pressefreiheit stünden dem Recht auf ein faires, geordnetes Verfahren gegenüber, in dem weder Richter noch Schöffen von der Medienberichterstattung beeinflusst würden. Beschuldigte müssten geschützt werden.

Semsrott hatte das Einverständnis der Beschuldigten eingeholt – und ihre Namen geschwärzt. Eine geladene Sachverständige ist Franziska Oehmer-Pedrazzi, Professorin für Kommunikationswissenschaften in der Schweiz. Sie forscht zu Medien und Justiz. Vor Gericht gibt sie an, Studien zufolge hätten Medienberichte nur einen geringen Einfluss auf Gerichtsurteile. Ein Einfluss von Originaldokumenten oder wörtlichen Zitaten sei nicht untersucht worden.

Dem Staatsanwalt leuchtet die Argumentation von Semsrott und An­wäl­t*in­nen offenbar nicht ein, hält das Vergehen aber für gering. Semsrott habe sich schuldig gemacht, sei aber geständig und habe keine Sensationslust befriedigen wollen, sondern öffentliches Interesse. Er halte daher eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 50 Euro für angemessen, erklärte er im Schlussplädoyer.

Das Urteil soll am Freitag fallen. Semsrott will, dass der Richter den Fall direkt ans Bundesverfassungsgericht überträgt. Das wird er voraussichtlich nicht tun. Dann braucht Semsrott einen Schuld- oder auch einen Freispruch. Bei letzterem könnten sich Jour­na­lis­t*in­nen künftig auf die Rechtsprechung in diesem Fall beziehen. Wird Semsrott schuldig gesprochen, will er vor den Bundesgerichtshof und wenn notwendig vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

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