Gericht zu Pop-up-Radspuren in Berlin: Noch ein bisschen sicherer
Die eigentlich temporären Radwege dürfen bleiben, sagt das Oberverwaltungsgericht. Unklar bleibt, wie sie begründet werden müssen.
Das sind die Hintergründe: Im Sommer hatte ein AfD-Abgeordneter vor dem Verwaltungsgericht gegen die geschützten Spuren geklagt, die die Senatsverkehrsverwaltung seit März in mehreren Bezirken quasi über Nacht angeordnet hatte. Sie behinderten ihn auf seinem Arbeitsweg mit dem Auto, so der Kläger. Und siehe da: Das Gericht kassierte die Spuren Anfang September im Eilverfahren.
Allerdings legte der Senat Beschwerde bei der nächsten Instanz ein, dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg. Im Oktober fällte dieses eine weitere Eilentscheidung: Die Pop-up-Wege können vorerst bleiben. Diese Entscheidung hat es jetzt, Anfang Januar, eigentlich nur noch einmal bestätigt und als „unanfechtbar“ bezeichnet.
Kein wirklich neuer Sachstand also, trotzdem freuen sich PolitikerInnen und Verbände laut: „Das OVG hat unsere Rechtsauffassung bestätigt, wonach die Einrichtung von Pop-Up-Radwegen zulässig ist“, teilte die Verwaltung von Senatorin Regine Günther (Grüne) mit. Es sei „ein gutes Signal für das Hauptsacheverfahren, in dem abschließend entschieden wird, ob die Pop-up-Radwege bleiben können“. Die Grünen-Fraktion sprach von einem „weiteren Etappensieg für mehr Verkehrssicherheit“, und der Verein Changing Cities sieht in dem Beschluss „ein klares Signal an den Senat: Ihr dürft das, jetzt könnt ihr nachlegen!“
Grünen-Fraktion im AGH
Tatsächlich steht es ja nicht schlecht für die Pop-up-Wege (wobei die Frage „temporär oder dauerhaft“ in der juristischen Auseinandersetzung eher unerheblich ist). Denn auch wenn das Verwaltungsgericht noch im Hauptsacheverfahren entscheiden muss, wiegt die jetzt wiederholte Aussage des OVG schwer: Der Beschluss der Erstinstanz sei „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Ergebnis fehlerhaft“.
Und das nicht allein, weil laut OVG die Interessen des privaten Klagenden gegenüber dem öffentlichen Belang zurücktreten müssten. Sondern auch, weil Günthers Verkehrsverwaltung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens konkrete Begründungen für die Notwendigkeit der beanstandeten Radspuren nachgereicht hat. Dabei handelt es sich um Gefahrenprognosen für die entsprechenden Straßenabschnitte, die unter anderem durch Daten aus Verkehrszählungen und Unfallstatistiken belegt wurden.
Braucht es überhaupt Begründungen?
Noch wichtiger ist aber eine Frage, die sich das OVG gar nicht gestellt hat, weil ihm dazu sozusagen der Prüfauftrag fehlte: Muss die Verkehrsverwaltung, die vom Mobilitätsgesetz zur Einrichtung sicherer Radverkehrsanlagen auf allen Hauptverkehrsstraßen verpflichtet wird, tatsächlich jede einzelne dieser Anlagen begründen? Geht eine solche Pflicht aus der Straßenverkehrsordnung (StVO) hervor? Oder nimmt diese gerade Radverkehrsanlagen davon aus?
Zu letzterem Schluss war ein Gutachten gekommen, das die Senatsverkehrsverwaltung bei den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestags in Auftrag gegeben hatte. Spätestens in der Hauptsacheentscheidung des Verwaltungsgerichts – wann die kommt, kann niemand sagen – ist diese Frage zu klären.
Sollte dabei herauskommen, dass für jede Anordnung eine Einzelbegründung notwendig ist, wäre das für Changing-Cities-Sprecherin Ragnhild Sørensen ein schlechtes Signal: „Die Mobilitätswende treibt man nicht voran, wenn man solche Maßnahmen jedes Mal begründen muss.“
Und auch die grüne Fraktionschefin Antje Kapek und der Radverkehrs-Sprecher der Fraktion, Stefan Taschner, greifen hier schon einmal vor: „Um wirkliche Rechtssicherheit herzustellen, brauchen wir nach wie vor eine Änderung der Straßenverkehrsordnung“, fordern sie. Die müsse „Städten endlich mehr Spielraum geben, um den Straßenraum gerechter zu verteilen und so das Miteinander aller Verkehrsteilnehmer*innen sicherer zu machen“.
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