Generalstreik in Frankreich: „Macron hat sich verschätzt“
In Frankreich heizt die Staatsführung den Konflikt mit Gewerkschaften und Gelbwesten unbewusst weiter an. Das meint die Historikerin Danielle Tartakowsky.
taz: Frau Tartakowsky, wie schätzen Sie bisher den Streik in Frankreich im Kampf gegen die geplante Rentenreform ein? Haben die Gewerkschaften eine erste Runde gewonnen?
Danielle Tartakowsky: Zweifellos, selbst wenn man die offiziellen Zahlen der Teilnehmenden der Regierungsstellen nimmt. Die Beteiligung an den Demonstrationen und Streiks ist vergleichbar mit 1995 und anderen früheren Bewegungen zur Verteidigung des Rentensystems.
Gerade erst ging der Konflikt mit den Gelbwesten auf ein Ende zu. Warum riskiert die Staatsführung in diesem bereits angespannten Klima eine derart frontale Auseinandersetzung?
Als Präsident Emmanuel Macron die Reform bei der staatlichen Bahn mit der Öffnung für die Konkurrenz gegen harten Widerstand durchgesetzt hatte, glaubte er, damit sei die letzte Gewerkschaftsbastion bezwungen und der Weg frei für alle anderen Reformen auf Kosten sozialer Errungenschaften. Er hat die Situation völlig falsch eingeschätzt und alle Vorzeichen der Proteste der Gelbwesten missachtet.
Stimmt der Eindruck, dass in Frankreich immer wieder zuerst gestreikt und erst danach über Kompromisse verhandelt wird, oder dass die Staatsführung unfähig zu einem echten Dialog ist?
Man darf nicht vergessen, dass in Frankreich der Sozialstaat auf sehr unterschiedliche Weise entstanden ist als etwa in Deutschland. In Frankreich ist er das Ergebnis großer Mobilisierungen, namentlich in den 30er-Jahren während der Volksfrontregierung und der Résistance-Bewegung und der Befreiung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das hatte eine starke soziale Intervention des Staates zur Folge, hat aber auch im kollektiven Bewusstsein die Idee verankert, dass sich der Kampf auszahlt. Auch in Frankreich existierte ein Sozialstaat, der ursprünglich der Konzertierung Raum gewähren wollte. Das hat sich unter Macron drastisch verschlechtert. Er hat selbst das konstruktive Angebot zum Dialog der gemäßigten Gewerkschaft CFDT und deren Warnungen ignoriert. Seit seiner Wahl glaubt er anscheinend, allein den Schlüssel zur Wahrheit zu besitzen.
Danielle Tartakowsky ist eine französische Historikerin und Expertin für die Geschichte der sozialen Bewegungen in Frankreich. Sie war Präsidentin der Uni Paris-VIII.
Wahrscheinlich gibt es im französischen System der Altersvorsorge wirklich Reformbedarf. Doch greift die Staatsführung zur falschen Methode?
Sie wusste seit mindestens drei Monaten, dass es zum Konflikt kommen würde. Das gab ihr Zeit, die Lage zu entschärfen. Sie hat es nicht getan. Gerade im öffentlichen Dienst, den ich als Ex-Präsidentin einer Universität kenne, gibt es reale Probleme. Doch die Antworten der Regierung entsprechen nur ihrer Haushaltslogik. Nie gab es eine echte Möglichkeit, in Ruhe gemeinsam Lösungen zu finden, die den diversen Ansprüchen und Anforderungen entsprechen.
Die Streiks gehen weiter, die Gewerkschaftsverbände haben bereits einen neuen Aktionstag angekündigt. Die Regierung scheint unter dem Druck zu Konzessionen bereit zu sein. Wagen Sie eine Prognose, wie das enden wird?
Nein. Aber kommen wir nochmals auf die Taktik und das Timing während der Krise mit den Gelbwesten: Präsident Macron hat zuerst wochenlang geschwiegen, dann nach einem ersten Höhepunkt und gewaltsamen Zusammenstößen beim Triumphbogen (vor genau einem Jahr) hat er erste Zugeständnisse gemacht – mitten in der heißen Phase des Konflikts! Damit hat er die Idee bestärkt, dass nicht nur Kampf, sondern auch Gewalt sich bezahlt macht! Das ist eine kuriose Taktik. Das wiederholt sich heute: Indem Premierminister Philippe erst Mitte der Woche den Inhalt der Reform mitteilen will, verlängert er de facto den Streik. Was immer er an Konzessionen ankündigt, wird letztlich niemanden zufrieden stellen, dürfte aber erneut die Erfahrung bestätigen, dass sich in Frankreich der Widerstand lohnt.
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