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■ Norbert Seitz

Was hat die Entstehung der Nervosität mit dem Prozeß des nationalen Erwachens zu tun? Und was ihre Bekämpfung mit dem Krieg? Die voluminöse Feldstudie des Bielefelder Historikers Joachim Radkau liefert einen originellen Beitrag zur deutschen Mentalitätsgeschichte. Die semantische Studie untersucht die Dreiecksbeziehung zwischen psychosomatischem Leiden, technischem Wandel und reichsdeutscher Politik. „Der arme Kaiser macht die ganze Welt nervös“, stöhnt es aus seiner nicht minder echauffierten Umgebung. Bis sich die Wechselbeziehung zwischen der Reizbarkeit des Kaisers und der politischen Gesamtsituation zur weltpolitischen Katastrophe ausweitet. Schon Bismarcks Weinkrampf und Nervenzusammenbruch 1866 in Nikolsburg hatte eine dramatische katalysatorische Wirkung: die kommende deutsche Einigung. Der Krieg als Überwindung der neuen Zeitkrankheit Nervosität.

Der Leser erstickt faßt in einer empirischen Flut von Einzelbeispielen, ohne indes gelangweilt zu werden. Man erfährt vergnügliche Details. So rief Theodor Lessing in der snobistischen Kampfschrift Der Lärm aus dem Jahr 1908 zum Widerstand gegen das Knattern der Motorräder auf, weil es eine „akustische Machtergreifung der Geistfeinde“ darstelle.

Joachim Radkau: „Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler“. Carl Hanser Verlag, 550 Seiten, 68 DM

Norbert Seitz ist Redakteur der „Frankfurter Hefte“.Foto: Archiv

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