Gehirnerschütterungen im Sport: Salto mortale
Dass Footballprofis Kopfverletzungen davontragen, ist bekannt. Aber Wasserspringer? Das Bewusstsein in den USA dafür wächst langsam.
Wasserspringen ist in den USA ebenso beliebt wie Turnen, obwohl sich für beide Sportarten bei den Olympischen Spielen jeweils nur ein kleines Zeitfenster von zwei Wochen öffnet. Dann stehen wieder die Basketballer, Baseball- oder Eishockeyspieler im Mittelpunkt. Das Turmspringen wird spätestens seit den spektakulären Auftritten eines Greg Louganis in den Staaten als zirzensisches Spektakel mit hohem Unterhaltungswert angesehen, dabei hat der Sport eine dunkle Seite. Er ist gesundheitlich nicht unbedenklich, und in der amerikanischen Öffentlichkeit, die bereits aufgeschreckt worden ist von zahllosen Berichten über hirngeschädigte Football-Spieler, dringt das auch langsam durch.
Ein wahrlich düsteres Bild zeichnete vor einiger Zeit die Los Angeles Times, die eine Reihe von Risiken benannte: gebrochene Handgelenke, ausgekugelte Schultern, verdrehte Hälse und Ellbogen, geplatzte Trommelfelle, nicht zuletzt Gehirnerschütterungen und Lungenkontusionen, bei denen durch die Wucht des Aufpralls die Lunge gequetscht wird. Das ist nicht wirklich verwunderlich, knallen die Athletinnen und Athleten doch mit bis zu 80 Kilometern pro Stunde vom 10-Meter-Turm auf die Wasseroberfläche.
„Die Leute haben keine Ahnung“, sagt die ehemalige Olympiateilnehmerin Kassidy Cook in besagter Zeitung: „Wenn man auf das Wasser trifft, ist es für den Bruchteil einer Sekunde hart wie Beton, bevor man durchbricht.“ Viele Sportler tragen Handgelenksbandagen, stärken Rumpf- und Nackenmuskulatur massiv, doch die regelmäßigen Erschütterungen, die in der Eintauchphase nicht zu verhindern sind, wirkten wie die Kontakte bei Footballspielern, mahnen Sportmediziner. In der Summe könne das zu Schädigungen führen.
Eine Studie, die 2016 an der Universität von Iowa veröffentlicht wurde, verdeutlicht die Gefahren. Untersucht wurden studentische Sportlerinnen, die Salti und Schrauben drehen. Die Untersuchungsgruppe war mit 24 Teilnehmerinnen nicht sonderlich groß, nichtsdestotrotz lieferte sie ein verblüffendes Ergebnis: 54,2 Prozent der Sportlerinnen hatten bereits eine Gehirnerschütterung erlitten. Zum Vergleich: College-Sportler, die den harten Kontaktsport Football betreiben, erleiden offenbar weniger Gehirnerschütterungen als die Kolleginnen im Schwimmanzug.
Unfall am Turm
Etwa 5 bis 15 Prozent der Footballer erhalten in ihrer College-Karriere so eine Diagnose. 91,7 Prozent der Springerinnen, die einen Brummschädel hatten, klagten über Kopfschmerzen, ebenso viele über Schwindelgefühle. 75 Prozent gaben an, Probleme mit dem Gleichgewicht zu haben. Über 58 Prozent der Athletinnen meinten, wie „in einem Nebel“ zu stecken. Sehr viele Springerinnen litten zudem unter Konzentrationsproblemen.
Die Gehirnerschütterungen wurden bei zwei Springerinnen nicht erkannt, andere gingen viel zu spät zum Arzt, ließen im Schnitt zwölf Stunden verstreichen, bis sie Hilfe holten. Das alles spricht für ein nicht ausgeprägtes Diagnosesystem, eine Früherkennung, die mittlerweile in der NFL oder der NHL fest etabliert ist. Da wird bei einem Verdacht umgehend ein „Concussion Protocol“ geschrieben; Ärzte entscheiden nach Inaugenscheinnahme, ob der Sportler weitermachen kann oder pausieren muss.
Mitunter resultieren Gehirnerschütterungen auch aus dem Kontakt des Kopfs mit dem Brett oder der Plattform; eine Sportlerin berichtet in der Studie davon, dass ihre Gehirnerschütterung so zustande gekommen sei.
Den wohl tragischsten Unfall im Wasserspringen hat es 1983 bei der Universiade im kanadischen Edmonton gegeben, als der sowjetische Springer Sergei Chalibashvili mit dem Kopf an der Plattform aufschlug und bewusstlos ins Wasser klatschte. Der 21-Jährige fiel ins Koma und starb schließlich an Herzversagen. Greg Louganis erlebte das damals hautnah mit. Er erinnert sich: „Ich hatte eine Vorahnung. Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war, als ich spürte, wie der Turm erzitterte. Ich hörte Schreie. Ich rannte zum Rand der Plattform und sah viel Blut im Pool.“
2011 ereilte die britische Springerin Monique Gladding fast das gleiche Schicksal. Sie stieß nach dem Absprung mit dem Kopf an die Plattform und stürzte ins Wasser. Betreuer kämpften am Beckenrand um Gladdings Leben. Sie überlebte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut